Mariannes Ende auf der Erde

Abermals befand ich mich an dem Ort, an dem ich geboren wurde.
Hier sollte meine Nachforschung beginnen.
Sofort erkannte ich diese Umgebung.
Hier waren meine Jugendjahre vorübergegangen.
Ich befand mich in dem Wald, in dem ich mit Marianne gespielt hatte.
Vor mir sah ich das Grab meiner Eltern.
Ich sah lediglich zwei Skelette, doch ich wusste, von wem sie waren.
Hier würde ich keine Träne verlieren, ich hätte es nicht gekonnt und verspürte auch kein Bedürfnis danach.
Diese Skelette waren mir fremd, ebenso wie sie mir fremd gewesen waren, als sie noch in ihrem Glück lebten.
Was ist der Mensch und wie viel Unheil kann der Mensch stiften!
Wie stark ist er und wie gemein, aber auch wie dumm!
Hier vor mir lag der irdische Verstand.
Diese Skelette gehörten zu denen, die aus mir einen Herrscher hatten machen wollen.
Sie hatten geherrscht, und wie.
„Ruhet in Frieden, ihr Leute, ich habe euch alles vergeben und bringe euch keinen Hass entgegen, sondern habe euch lieb, weil ihr nicht wusstet, was ihr tatet.
Ihr habt so gehandelt, wie kleine Kinder handeln würden.“
Nun waren sie tot, doch das Leben war weitergegangen und ich wusste, wo es lebte.
Gott hatte uns lieb, aber wir Ihn nicht.
Der Mensch verfluchte seinen Gott und sie vernichteten einander.
Tot und dennoch am Leben, Kinder der Ewigkeit!
Sie würden wieder auf die Erde zurückkehren, aber womöglich getrennt.
Wie mächtig war dieses Wiedersehen und wie dankbar konnte ich Gott dafür sein.
Ich konnte nicht weinen, aber ich schickte meine liebevollen Gedanken zu ihnen.
Sie hatten es schließlich nicht besser gewusst.
Reich waren sie gewesen, doch arm im Gefühl.
Was war irdischer Reichtum?
Meine Eltern hatten nie so gelebt, wie sie hätten leben sollen.
Ich besaß noch mehr Eltern und ich fing nun an, zu verstehen, was Vater- und Muttersein bedeutete.
Lebt wohl, Kinder der Ewigkeit, Gott segne eure Wege!
Lange verweilte ich an diesem Ort, doch ich fühlte, dass ich weitergehen musste.
Am Ort, an dem Marianne gelebt hatte, fühlte ich, dass Emschor mich verband.
Im selben Augenblick nahm ich wahr und vor mir sah ich Marianne.
Es war zu der Zeit, als ich fortging.
Noch am selben Tag mussten auch sie fortgehen.
Sie wurden verjagt und ich verstand diese Szene.
Ich sah deutlich, dass sie sich für die Abreise bereit machten.
Man verdächtigte sie, mich verdorben zu haben.
Zum Glück waren sie der Folterkammer entkommen.
Gott hatte sie beschützt, wie mich.
Doch ich fühlte darin eine andere Wirkung.
Fühlte ich es wohl deutlich?
Ach, es konnte nicht anders sein.
„Meister“, sagte ich, denn er war es, der sie davor behütet hatte, „wie kann ich dir danken, wie mächtig bist du.“
Arme Menschen!
Bald waren sie bereit und gingen fort in eine andere Stadt oder ein anderes Dorf.
Ich folgte ihnen.
Abermals war ich mit der Vergangenheit verbunden.
Meine Liebe, die ich jetzt für Marianne empfand, trug ich schon als Kind in mir.
Auch sie fühlte wie ich, wir beide suchten und ersehnten das Eine, diese große und heilige Liebe.
Doch wir waren unbewusst, denn die Vergangenheit lag tief in uns verborgen.
Meine Liebe wuchs mit jedem Schritt, der sie von meinem Elternhaus entfernte.
In mich kamen ihre Gedanken, die sie zu jener Zeit hatte.
Sie hatte mich in kindlicher Naivität lieb.
Wie wunderbar war auch diese Verbindung.
Ihre Eltern waren betrübt, weil sie fortgehen mussten, trotzdem lag Glück in ihnen, weil sie ihr Leben behalten hatten.
An einem anderem Ort, es war ein kleines Dörfchen, schlugen sie ihre Zelte auf, um ein neues Leben zu beginnen.
Nun folgte Bild auf Bild.
Ich sah, dass Marianne heranwuchs, und je älter sie wurde, desto mehr entwickelten sich ihr Charakter und ihre Persönlichkeit.
Ihre Eltern hatten Angst, denn in ihr lag Leichtsinn.
Sie war eine schöne Erscheinung und sie besaß ein großes und starkes Gefühl für Kunst.
Auch hatte sie eine wunderschöne Stimme.
Je älter sie wurde, desto bewusster wurden diese Fähigkeiten, und ich hörte ihren herrlichen Gesang, der bis tief in meine Seele vibrierte.
Ich sah, dass sie ihr Elternhaus im Alter von einundzwanzig Jahren verließ.
Sie ging im Stillen fort, in die weite Welt hinein, sie wollte Ruhm und Ehre erlangen.
In ihrem Wesen lag der Intellekt aus früheren Leben.
Die ganzen Kräfte und Gaben wurden bewusst, auf denen sie weiterbaute und ihre Stimme entwickelte.
In ihr lag ein starker Willen, etwas Schönes aus ihrer Kunst zu machen.
Sie strebte nach einem einzigen Ziel, nach dem auch ich gestrebt hatte: Ruhm, Glück und Liebe.
Unsere Wege waren eins, merkwürdig war das.
Von diesem Ort aus folgte ich ihrem Leben, von Stadt zu Stadt.
Sie stürzte sich von einer Leichtsinnigkeit in die andere.
Doch sie blieb einfach, ihre Herkunft und Abstammung waren nicht zu leugnen.
Das Menschliche brachte sie in die unangenehmsten Situationen und durch ihre Verwegenheit lernte sie das Leben kennen.
Das brachte ihr nichts anderes als Leid und Schmerz.
Ihre Schönheit brachte sie in Versuchung, das gab ihr irdisches Glück und Erholung.
So flogen die Jahre vorbei.
Doch auch sie suchte nach wie vor und konnte nicht finden, wonach sie sich so sehr sehnte.
Eine nicht gekannte Kraft trieb sie an einen bestimmten Ort, wovon sie nichts wusste, fühlte oder begriff.
Wie ist das möglich, dachte ich.
Ich fühlte, dass sie zu mir getrieben wurde, vorwärtsgetrieben durch die Kraft der Vergangenheit, ein kosmisches Gesetz, von dem die Menschen auf der Erde nichts verstanden.
Hier vor mir sah und fühlte ich dieses Gesetz.
Ich sah, dass sie sich in meiner nächsten Umgebung niederließ.
Ach, hätte ich das gewusst!
Mir war nun klar, dass der Mensch von unsichtbaren Mächten vorwärtsgetrieben wurde.
Doch diese Mächte und Kräfte hatten in der Vergangenheit eine Verbindung bekommen, waren ineinander übergegangen und wieder auseinandergerissen worden, um doch wieder verbunden zu werden.
Großartig war dieser Blick in die Tiefe der Vergangenheit, den zu tun mir vergönnt war.
Wie anders wäre alles gewesen, wenn ich ihr früher begegnet wäre.
Aber daran war nichts mehr zu ändern.
Es sollte geschehen.
Nun verstand ich, warum all diese Gedanken zu mir gekommen waren, als ich mit ihrer Skulptur begonnen hatte.
Aus weiter Ferne hatte sie mich beeinflusst, aber sie tat es, ohne es zu wollen, und auch ich war mir dessen nicht bewusst.
Trotzdem waren wir in Verbindung gewesen.
Ich sah darin die Inspiration aus weiter Ferne und verstand, dass ich von ihr gelebt wurde.
Tief waren diese Gesetze, deren sich ein Künstler auf der Erde nicht bewusst ist.
Ich modellierte sie, die ich lieb hatte, und sie lebte ganz in meiner Nähe.
Es ist kaum zu glauben, dachte ich, doch ich musste es akzeptieren.
Wie intensiv waren menschliche Gedanken.
All diese Kräfte wollte ich kennenlernen und ich würde dies nicht vergessen.
Tag und Nacht hatte ich damals an sie gedacht.
Ich verstand nun alles.
Es war seltsam.
Ich kehrte zu ihrem eigenen Leben zurück und sah, dass sie wie all die anderen Frauen war, die ich auf der Erde kennengelernt hatte.
Wenn ich ihr in dieser Situation begegnet wäre, hätte ich mich auf der Stelle von ihr abgewandt und wäre fortgegangen.
Ich dankte Gott, dass mir dies erspart geblieben war.
Es hätte meine Liebe zu ihr zerstört.
War das Marianne?
Nun verstand ich auch ihr Flehen, nicht nach ihrem Leben zu fragen, weil sie dafür stichhaltige Gründe hatte.
Trotzdem hatte ich sie lieb, denn sie war die Meine.
Einst würden wir verbunden werden.
Mein Kreislauf der Erde ging zu Ende und auch ihrer würde enden.
Früher oder später war es so weit und wir wären auf ewig eins.
Alles konnte ich ihr vergeben, jetzt, da ich wusste, wie mein eigenes Leben gewesen war.
Etwas hielt mich mit ihr verbunden und das war die Vergangenheit.
Im Alten Ägypten wurde es mir gezeigt und jetzt war ich dafür sehr dankbar.
Wie schön war meine Marianne!
Ihre goldblonden Locken, ihre gesunde Gesichtsfarbe und ihre strahlenden Augen verliehen ihr diese Schönheit.
Aber was ist der Mensch, der sich selbst nicht kennt und sich vergisst?
Was ist irdische Schönheit, wenn die inneren Gefühle ins stoffliche Leben übergehen?
Sie vergaß sich, weil sie sich selbst nicht kannte.
Erst in einem anderen Leben würde sie sich selbst kennenlernen.
Nun fand ich es notwendig, dass sie zurückkehrte, denn in jenem Leben sollte sie erwachen.
Aber wie tief war alles, jetzt, da ich dies wusste und es vollkommen verstand.
Was ist der Mensch, wenn er diese Naturkräfte besudelt und seinen schönen Körper entehrt?
Ich empfand es nicht nur als einen Fluch, sondern der Mensch forderte Ihn heraus, seinen Gott, der ihm diesen schönen Körper geschenkt hatte.
Wie groß war bereits diese Gnade, diesen Körper zu besitzen, denn viele waren missgebildet und gebrechlich.
Meinen Freund Roni hasste ich, weil er seinen schönen Körper besudelte.
Er war wie ein Adonis, aber innerlich ein Tier.
Marianne hatte sich ihm hingegeben, sie wurde verwöhnt, aber zugleich verhöhnt und verspottet.
Andere besudelten ihre Schönheit, die mir heilig gewesen war.
Nein, in jener Zeit gehörten wir nicht zueinander, wir hätten einander nicht verstanden.
Sie konnte die Größe meiner Liebe nicht fühlen, nur Gott wusste, dass es noch nicht an der Zeit war, und so geschah, was sich als notwendig erwies.
Marianne hätte mir, das sah und fühlte ich erst jetzt, nicht die höchste Inspiration geben können, und das wäre für mich ein Schock gewesen, wenn ich das erlebt hätte.
Nun dankte ich Gott, dass ich ihr nicht eher begegnet war.
Ich konnte Roni nun vergeben, ihn hasste ich nicht mehr und Marianne hatte ich lieb, sie war meine Zwillingsseele und er mein Bruder geworden.
Mit Marianne fühlte ich mich eins, eins in der Seele, und das würden wir ewig bleiben.
Dies war ein kosmisches Gesetz, Gott wollte es, im Universum lag es fest.
Die Tiefe dieses Problems konnte ich noch nicht erfühlen, doch ich akzeptierte, denn in mir lag das sehnende Gefühl.
Als sie dort in meiner nächsten Nähe lebte, dachte auch sie an ihre Jugend und ihre Liebe zu mir erwachte.
Doch sie glaubte, diese Liebe in Roni gefunden zu haben, aber das war nicht der Fall.
Vor mir sah ich nun ein ungeheures Problem und ich fühlte, dass wir drei miteinander verbunden wurden.
Das geistige Rätsel fügte sich fest ineinander und immer inniger wurde die Verbindung.
Drei Seelen waren zu einem bestimmten Zweck auf der Erde und sollten einander dort wieder begegnen.
Was auch geschah, denn es war ein Gesetz und dieses Gesetz erlebten wir, wir konnten dem nicht entrinnen.
Ich fühlte, dass ich bebte, denn wie unglaublich war dies.
Zu ein und demselben Fleck auf dieser großen Erde wurden wir gelenkt, um einander dort zu begegnen.
So war es, denn Roni und Marianne und ich hatten es erlebt.
Tausende von Menschen erlebten etwas Derartiges, doch erst auf dieser Seite lernten auch sie diese Gesetze kennen.
Hier, in diesem Leben, lösten sich Wunder und Probleme auf, wir gingen in sie über.
Es war großartig, all dem folgen zu können.
Ich verstand auch, dass ein jeder sein eigenes Leben erleben musste, doch das Eine, das uns drei betraf, damit hatten wir alle zu tun.
Wir kamen mit vielen anderen Wesen in Verbindung, lernten durch die Menschen das Leben auf der Erde kennen, taten Gutes und Böses, wodurch sich unsere Charaktere veränderten.
Von Tier zu Mensch, von Geist zu Gott, diesen Weg hatte der Mensch zurückzulegen.
Im irdischen Körper lebte sich die Seele gänzlich aus, aber dennoch diente das irdische Leben dazu, uns geistigen Besitz, reine und geistige Liebe zu eigen zu machen.
Einer lernte durch den anderen, aber all diese Menschen wurden von einer einzigen Kraft geführt und gelenkt und das war Gott, der Schöpfer von Mensch und Tier und allem anderen Leben.
Im Menschen lag seine Abstimmung, eine Flamme, die ewig brannte, die der Mensch jedoch ausgehen ließ.
Der Mensch hatte, ich sah und fühlte dies alles, das Höchste empfangen, doch diese heilige Liebe musste man sich zu eigen machen.
Roni und ich, so auch Marianne, wir sollten verbunden werden.
Roni würde einst, wie jeder andere Mensch, seine Liebe empfangen.
Ich konnte die Macht, die uns zusammengeführt hatte, nicht ergründen, aber ich wollte es auch nicht, denn ich empfand Ehrfurcht.
Vor etwas Mächtigem sollte man sein Haupt neigen.
Plötzlich dachte ich wieder an ihren Zustand, sie trug Leben.
Ein junges Wesen war in ihr, als ich in meinen Kerker gebracht wurde.
Hatte sie dieses junge Wesen bis zum Schluss getragen?
Die Bilder folgten nacheinander, eins verschwamm nach dem anderen.
Dann sah ich das Bild vor mir, als sie mich in meinem Kerker besuchen kam, woraufhin ich das Bild sah, als ich verurteilt wurde und sie krank war.
Im selben Augenblick, da ich dies wahrnahm, bekam ich die Antwort auf das, worüber ich gerade nachgedacht hatte.
Nein, die Erschütterung war zu groß gewesen.
Das junge Leben war dahin zurückgekehrt, von wo es zu ihr und in sie gekommen war.
Gott sei Dank, dachte ich.
Dennoch, wenn dies notwendig gewesen wäre, hätte ich mich jetzt mit allem abgefunden.
So stark waren all diese Wahrheiten für den Menschen, so stärkte es die Seele, wenn man wusste, warum und wozu, dass man allem entsagte.
Danach sah ich ein anderes Bild und ich verstand, dass sie geheilt war.
Was sollte sie nun tun?
Ich folgte ihr weiter und ich sah, dass sie zu meinem Atelier zurückkehrte und annahm, was ich ihr angeboten hatte.
Ihr eigenes Bildnis und meines, die ich einst für mich selbst gemacht hatte, und viele andere Skulpturen wurden eingepackt, und so begann ihre Reise.
Wohin würde sie gehen?
Aber schon bald begriff ich, wohin sie ging.
Dies war die beste Lösung, da ihr Leben und meines ja doch kaputt waren.
An Herz und Seele gebrochen kehrte sie zu ihren Eltern zurück.
Wie eine Demütige war sie zurückgekehrt und senkte ihr Haupt.
Ihren Leichtsinn hatte sie abgelegt.
All meinen Besitz hatte sie mitgenommen und viele Skulpturen bekamen einen Platz in ihrer Nähe.
Ihre Eltern waren sehr glücklich und hatten ihr Kind mit offenen Armen empfangen.
Marianne fristete ihr Leben in Einsamkeit und in der Stille.
Ihre Persönlichkeit war gebrochen, aber mir schenkte sie ihre Liebe.
Sie empfand für mich, wie ich für sie empfand.
Draußen in der Natur wurde sie bewusst.
Das Leben hatte ihr Herz gebrochen, aber innerlich erwachte etwas, das in meiner Zelle zu mir kamund meine Sehnsucht wachgerüttelt hatte.
Ich hatte mich nach ihr gesehnt, das hatte mich verzehrt, und auch diese Gedanken waren ihre.
Abermals sah und fühlte ich ein Wunder der Gedankenkraft.
Liebe kannte keine Distanz, denn wir waren eins, ohne es zu wissen.
Wir mussten nur noch erwachen, auf dass unsere Liebe reiner und bewusster würde und zu etwas Schönem und Erhabenem heranwachsen würde.
Dann erst war sie geistig, dann war unsere Liebe rein und reichte noch weiter als die Schwester- und Bruderliebe.
Schau, das sah, fühlte und lernte ich erst, als mir jetzt die Vergangenheit offenbart, der Schleier über einem Geschehen gelüftet wurde.
Die Stille, die ich in meinem Kerker empfunden hatte, war ihre Stille.
Draußen entwickelte sich ihre Liebe, ihre Umgebung war die Vergangenheit, denn um sie herum stand ihre eigene Skulptur und daneben meine.
Stunden verweilte sie an diesem Ort und sprach mit mir.
„Wäre meine Seele nur so weiß“, hörte ich sie sagen, „wie dieser schneeweiße Marmor, aus dem er mich machte.
Lantos, mein Lantos, ach, wie musst du leiden!
Kannst du mir verzeihen?
Wenn du alles weißt, kannst du mich dann trotzdem noch lieb haben?
Falls Gott mich hört, so weiß Er, dass ich allein dich lieb habe, immer lieb gehabt habe.
Lantos, kannst du der Meine sein?
Oh, wie sehne ich mich!
Was ist es, das du in mich gelegt hast?
Ich fühle deine Stille, all deinen Kummer und dein Leiden, und trotzdem kann und darf ich dich nicht besuchen.
Dort bist du allein, du leidest und bist gebrochen.
Ich fühle es, ach, ich weiß es, denn in meinem Traum sehe ich dich.
Manchmal fühle ich dich ganz innig, aber dann wieder schüttelst du mich ab und willst nichts von mir wissen.
Darum, mein Lantos, frage ich dich, hast du mich lieb?
Oh, wie kann ich dich lieb haben!
Ich werde meinen Tod abwarten und dann kann ich dir alles sagen.
Lange wirst du nicht weiterleben.
Gebe Gott dir die Kraft, dass du dies alles aushalten kannst.
Ich bin dein Unglück, ich bin diejenige, die dieses Unglück über dich ausgeschüttet hat, doch ich bitte Gott um Vergebung.
Lantos, Lantos, verzeih mir!“
Dann brach sie zusammen.
Wie hatte ich sie lieb!
Tränen liefen mir über die Wangen.
Liebe, mein Gott, wie schön, wie heilig ist jenes reine Gefühl.
In ihrer und meiner eigenen Skulptur fühlte sie meine Liebe zu ihr.
Ihre Sehnsucht nach diesem mächtigen Glück wurde immer inniger.
Sie ersehnte, wofür ich gebetet hatte, als sie mich in meinem Kerker besuchen kam, und diese Sehnsucht beherrschte ihr Leben.
Woran sie auch dachte, eine einzige Gefühlskraft beherrschte alles und das war ein brennendes Gefühl, die Sehnsucht, Liebe besitzen zu dürfen.
Doch allein die Liebe, die trägt, die jenes reine Glück empfindet, allein diese ersehnte sie.
Fühlte sie, dass sie erwachte?
Die Jahre gingen vorüber und sie schwand dahin.
Andere Bilder folgten nun aufeinander und ich sah, dass ihre Eltern einer nach dem anderen hinübergingen.
Marianne war nun allein.
Ihr Stoffkörper verschrumpelte und ihre körperlichen Kräfte nahmen von Tag zu Tag ab, doch ihr Inneres wuchs.
Immer stärker und schöner wurde es, denn das machte ihre Liebe.
Dennoch erreichte sie ein hohes Alter und sie war nur noch ein Schatten ihrer früheren Schönheit.
So nahte ihr Ende.
In ihrem Testament bat sie, mit ihrer und meiner Skulptur begraben werden zu dürfen.
Sie war überzeugt, dass sie vor ihrem Gott erscheinen würde, denn in ihr lag inzwischen ein starker Glauben.
Danach sah ich ihr Sterbebett.
Still ging sie dahin.
Ihre letzten Gedanken waren mir gewidmet, und auch sie glaubte, dass sie mich einmal wiedersehen würde.
Nein, Marianne, dachte ich, noch ist unsere Zeit nicht gekommen.
Wir werden einander wiedersehen, doch erst Jahrhunderte später.
Sie verschied, aber in ihr lag die Sehnsucht, dieses Große empfangen zu dürfen.
Auch ihr irdisches Leben war vorbei.
Unsere Skulpturen wird man einst ausgraben.
Einst, denn ich sehe, dass sie noch nicht gefunden wurden.
Dann wird der Mensch einen Blick auf die Vergangenheit werfen können.
Ich könnte Ihnen in diesem Moment eine Prophezeiung machen, doch ich weiß, dass man sie nicht akzeptieren wird.
Nein, Mensch der Erde, noch kann man diese tiefe Bedeutung dessen, was du aus dem Tiefsten der Erde freilegen wirst, nicht akzeptieren.
Ich bitte dich jedoch, habe lieb, was du ausgräbst, und verfluche es nicht, denn du weißt nicht, wie dieser Mensch einst hat leiden müssen.
Habe Ehrfurcht vor dem, was du freilegst, dann kann und wird das Wesen, das irgendwo lebt, nicht gestört werden.
Ich weiß, wie lange es noch dauern wird, doch man wird uns finden, aber dann wird die Vergangenheit für dich nicht aufgehellt werden.
Ein dichter Schleier wird dies bedecken, und zwar unsere Liebe.
Einst, wenn wir dieses mächtige Glück empfangen haben, werden unsere Skulpturen gefunden.
Aber dann gehören wir zu den Wesen des Lichts und sind in diese Sphären eingegangen.
Dann sind wir natürlich und die Natur gibt dieses Leben zurück.
Dann wird die Vergangenheit bewusst, lebt in der Wirklichkeit weiter und geht weiter zu noch höheren Gebieten, wie mein Meister es mir sagte.
Und darauf kann ich vertrauen, können Sie und tausend andere bauen, doch wissen Sie, dass es keine Luftschlösser sind, sondern heilige Wahrheit, denn es ist Ihr inneres Leben.
Dort erst werden Seelen verbunden, dort akzeptiert der Mensch dies alles und neigt sein Haupt, und es lösen sich alle „Wozus“ und „Warums“ für ihn auf.
Er wird sie erleben und dann sind Probleme und Wunder keine Probleme und Wunder mehr.
Wir sind es dann selbst, es ist Ihr inneres und ewiges Leben.
Am Rande ihres Grabes blieb ich lange in Gedanken.
In mir fühlte ich ein heiliges Band und in mir war Bewusstsein.
Dieses Geschehen gab mir die Kraft, weiterzumachen.
Nun würde ich anfangen, an mir zu arbeiten, ich wollte das Leben auf der Erde und auf dieser Seite kennenlernen.
Ich sah empor in das schöne Antlitz meines Meisters und sagte: „Ich danke dir, mein Vater aus längst vergangenen Zeiten, ich habe dich lieb.“
„Nun gehe ich fort, Lantos.“
„Ist es schon so weit?“, fragte ich.
„Ja, Lantos, wir müssen uns trennen.
Du wirst deinem eigenen Weg folgen, doch wisse, dass ich über dich wache und weiterhin wachen werde.
Denke an deine Liebe, denn diese Liebe gibt dir die Kraft, dein Kreuz zu tragen.
Bewahre dies alles tief in dir und warte geduldig, bis es Gottes Willen ist, dass du dies empfängst.
Marianne ging in unser Leben über und glaubte, dich zu sehen, doch du weißt, dass sie zurückkehren wird, und erst danach wirst du ihr begegnen.
Einmal kommt die Zeit!
Strebe danach, dir diese Liebe zu eigen zu machen.
Du suchst und du willst das Gute, suche stets weiter das Gute, dann erwarte ich dich in den Sphären des Lichts, um unser Werk fortzusetzen.
Dann wirst du abermals Wunder erleben, größer und tiefer, als du bist jetzt erlebt hast.
Ich mache mich in den Sphären des Lichts bereit, dich empfangen zu können.
Wisse, mein Junge, dass es viele gibt, die dich erwarten werden.
Wenn du einst so weit bist, werde ich dich rufen.“
Danach fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter und ein großes Licht umstrahlte mich.
Allmählich stieg dieses Licht vor meinen Augen empor, es ging höher und höher, bis ich es nicht mehr wahrnehmen konnte.
Trotzdem hörte ich noch, wie aus der Ferne zu mir gesagt wurde: „Leb wohl, mein Lantos, du siehst, wir gehen immer höher.
Leb wohl, Gott segne deine Wege, dein Emschor.“
Ich war tief erschüttert und zank in mich zusammen.
Auf Mariannes Grab war ich zusammengesackt und Tränen flossen über meine Wangen.
Meine Liebe zu ihr war echt und tief menschlich.
Durch die große Liebe von ihm, der soeben fortgegangen war, war diese Liebe gewachsen.
Ich betete inbrünstig und sehr lange zu Gott für unsere Liebe.
Mein Meister war fortgegangen, nun war ich wieder allein, denn ich würde ihn für eine lange Zeit entbehren müssen.
Meine „Warums“ und „Wozus“ hatten sich aufgelöst.
Die Vergangenheit war in mir bewusst geworden und ich hatte einen Gott der Liebe kennengelernt.
Ich fasste nun einen Entschluss.
Ich wollte alle Übergänge im Geiste kennenlernen, ich wollte alles, aber auch wirklich alles über dieses Leben wissen.