Das Ende meines Vaters
Fast neunzehn Jahre war ich als, als mein Vater hinüberging.
Schon eine Zeitlang hatte er sich auf das Sterben vorbereitet.
Wir hatten im Laufe der Jahre eine schöne Beziehung bekommen.
Mit einigen Worten verstanden wir uns.
Oft sprach er über den Tod, dann wirkte er wie ein Philosoph, für den das Sterben keine Geheimnisse mehr besaß.
Die Bücher und Meister Johannes hatten ihm vieles über das Leben nach dem Tod offenbart; tief dachte er darüber nach und gewann dadurch eine Ruhe, die ihn ohne Furcht an sein herannahendes Ende denken ließ.
Eines Abends sagte er: „Bevor ich sterbe, Theo, mein Junge, müssen wir etwas vereinbaren.
Es muss möglich sein, dass ich dich aus jener Welt erreiche, vieles über das, was ich dort sehe und erlebe, möchte ich dir dann erzählen.“
„Aber wie willst du mich erreichen, Vater?“
„Du bist doch medial veranlagt.“
Ich zuckte mit den Achseln.
In den Jahren, seit ich meine Hand hatte schreiben lassen, war ich misstrauisch gegenüber meinen sogenannten medialen Gaben geworden.
Ein Buch, das ich las und das mir durchaus vertrauenswürdig erschien, hatte dieser Art zu Schreiben wenig Wert beigemessen.
„Was niedergeschrieben wird, kommt in den meisten Fällen direkt aus dem Unterbewusstsein desjenigen, der seine Hand zur Verfügung stellt“, war das Urteil gewesen.
Ich nahm dies gerne an.
„Wenn ich dort bin und zu dir komme“, fuhr mein Vater fort, „werde ich durch deine Hand schreiben.
Unser Kontakt ist nun schon wunderbar, also wird es dort sicherlich auch klappen.
In jedem Fall werde ich dort darum beten, zu dir gehen zu dürfen.
Wir sollten jetzt schon etwas zu Papier bringen.
Dann kann ich dir von dort zeigen, dass ich es bin.
Ich werde das in Ordnung bringen, Theo.“
„Und wenn ich nun eher sterbe?“
„Du stirbst nicht eher.
Ich gehe vor dir, das weiß ich“, war Vaters entschlossene Antwort.
„Wie weißt du das so sicher?“, fragte ich.
„Das kann ich dir nicht sagen, aber ich fühle es.
Du wirst es sehen.
Ich bin in der letzten Zeit müde, Theo, so entsetzlich müde.“
„Soll ich denn einen Doktor holen?“
Vater stimmte zu, auch wenn er argumentierte, ihm wäre nicht mehr zu helfen.
Er würde es nicht mehr lange machen.
Der Doktor kam und untersuchte Vater.
Das Herz fand er etwas schwach, aber ernsthafte Gefahr hielt er nicht für gegeben.
„Sie sind noch zu jung, um von uns zu gehen“, sagte er scherzend.
Bereits einige Zeit zuvor hatte ich auf Vaters Wunsch hin einen Gesellen eingestellt.
Geschickt und ehrlich, wie er war, konnte ich ihm für einen Teil des Tages das Geschäft überlassen.
Diese Stunden verbrachte ich mit Vater.
Unser Kontakt wurde noch inniger, heilig fand ich oft die Augenblicke, wenn wir so zusammensaßen und er mir (etwas) aus seinen Bücher erzählte, die ihm so lieb waren.
Wie tief er denkt, durchfuhr es mich dann, und was für einen feinen, aufrechten Charakter er hat.
Manchmal erschien es mir, als lebe er bereits in jener anderen Welt, so still lag er dann da, nachdenklich, mit einem Lächeln um die Lippen.
Ein Mal, nachdem der Doktor weggegangen war und ihm noch einmal nachdrücklich versichert hatte, dass er gesund werden und die Müdigkeit aus ihm wegsacken würde, lag er wieder so still da.
Plötzlich begann er, zu sprechen:
„Was kann ein Mensch doch erleben, Theo.
Hör doch mal.
Ich war soeben in einer völlig anderen Welt.
Während der Doktor mich untersuchte, bekam ich das Gefühl, dass jemand mich hier wegholte.
Deutlich beschreiben kann ich es nicht.
Auf jeden Fall war ich weit weg von hier.
Du warst bei mir, und Mutter auch.
Aber jetzt kommt es.
Als der Doktor seine Untersuchung fast beendet hatte und mir sagte, dass ich vollkommen gesund werde, hörte ich zu meinem Erschrecken eine Stimme sagen: „Du wirst nicht gesund, du kommst bald hierher, wo das Leben ewig ist.“
Diese Stimme kannte ich, so vertraut klang sie.
Dann kehrte ich wieder hierher zurück.
Ich wollte meine Augen öffnen, aber das konnte ich nicht.
Du dachtest, dass ich schlief.
Ich rief dich.
Aber dennoch war ich es nicht selbst, der rief.
Findest du das nicht seltsam?“, fügte Vater leise hinzu.
Beunruhigt hatte ich Vater zugehört.
„An deiner Stelle würde ich nun etwas schlafen.
Du brauchst viel Ruhe“, drängte ich.
„Du gehst noch nicht weg, du bist noch zu jung zum Sterben.“
„Glaubst du nicht an das, was ich erlebt habe, Theo?
Du hast doch keine Angst, dass ich hinübergehe?
Wir müssen uns darauf vorbereiten.
Wir werden noch viel reden.
Alles, was ich denke und erlebe, werde ich dir erzählen.
Ich bin dankbar für das, was mein kurzes Leben mir gebracht hat.“
„Vater, der Doktor ...“
Er lächelte damals, wie einer, der weiß.
„Gott ist Liebe, Theo.
Ich fürchte mich nicht, zu sterben, nun, da ich so in Seine Ewigkeit eintreten darf.
In mir ist Ruhe, mein Junge, und dies alles verdanke ich meinen Büchern.
Wirst du sie auch lesen, Theo?
Und wirst du dich bald, wenn ich dort bin, für mich öffnen?“
Mit einem Kloß im Hals versprach ich es ihm, drängte ihn jedoch gleichzeitig, nun etwas zu schlafen.
Wie sehr liebte ich ihn.
Ich fühlte mich, als wäre ich in den vergangenen Monaten, seitdem wir so innig miteinander sprachen, viel älter geworden.
Glauben Sie nicht, dass wir immer nur ernst waren, oh nein, unsere Charakter waren heiter und wir konnten sehr herzlich lachen und uns wie fröhliche Kinder amüsieren.
Ich fühlte mich jedoch reifer als die jungen Männer meines Alters, mit denen ich in Kontakt kam, bereit für die ernsten Seiten, die das Leben auch mir sicherlich zeigen würde.
Mein Bedürfnis, zu lesen, wurde nun immer stärker in mir, darin unterschied ich mich auch nicht von Vater.
Freunde hatte ich nicht, ich suchte sie nicht, obwohl Vater mich dazu drängte; ich brauchte sie nicht.
Vater war alles für mich, einen besseren Freund würde ich sicherlich nie treffen.
Er war ein Vater und eine Mutter für mich.
Ja, er lehrte mich sogar, meine weggelaufene Mutter zu lieben.
Vater war einzigartig, und der Gedanke, ihn missen zu müssen, wodurch ich ohne Vater und Mutter und Freund dastehen würde, ängstigte mich, machte mir großen Kummer.
Denn dass er sterben würde, wussten wir beide.
Der Doktor hatte unrecht.
In meinem Herzen lebte diese Weisheit, genau wie bei Vater.
Sind Sterbende empfindsamer als gesunde Menschen?
Das fragte ich mich in diesen Tagen, an denen Vater mir immer wieder die Beweise für diesen Gedanken gab.
Seine Schelle läutete, und als ich zu ihm kam, suchte er meine Augen.
Mich ununterbrochen ansehend, nahm er meine Hand.
„Du wirst mich vermissen, Theo, ich fühle es.
Ist es nicht so?“
„Ich wehre mich dagegen, Vater, dass du von mir gehen wirst.
Aber der Gedanke kommt immer wieder.“
„Ich will dich sogar bitten, daran zu denken, mein Junge.
Denke viel über das Sterben nach, denn so versöhnst du dich damit.
Wir sind nicht wie das Gros der Menschen.
Ich bilde mir nichts ein, das weißt du.
Aber wir fürchten uns nicht vor dem Tod, nicht wahr?
Sie haben Angst, in das ewige Leben einzutreten, sie verabscheuen es in ihrem Herzen.
Wir wissen, dass es das Großartigste ist, was Gott dem Menschen schenken kann.
Oder siehst du es anders, Theo?“
„Nein, Vater.“
Aus meinem tiefsten Herzen kam dies, denn auch ich war von der Ewigkeit des Lebens überzeugt.
„Aber du willst mich noch nicht verlieren; stets stürmen diese Gefühle auf mich ein.“
„Du hast es also gefühlt?“
„Fühlen?
Was ist fühlen, Theo?
Es ist mehr, ich weiß, es scheint, als ob es in dir selbst gesagt wird.
Ich denke nun viel nach, ich gehe zurück in meine Jugend und erforsche alles, was folgte.
Es ist richtig, weiß ich nun, dass Mutter ihren eigenen Weg gegangen ist – ich hätte sie doch nichts lehren können.
Sie wird sich selbst viel Leid bescheren, aber einzig und allein dadurch wird sie lernen.
Sie wird einen Fehler nach dem anderen begehen, aber einst wird sie Reue verspüren und sich selbst Einhalt gebieten.
Ich fühle,wie ich mit jeder Sekunde älter werde.
Kommt es daher, dass ich auf einmal richtig krank bin?
Rüttelt Krankheit den innerlichen Mensch kräftig wach?
Es muss wohl so sein.
Alles in unserem Leben hat Bedeutung.
Du fühlst in mir deinen Vater und deine Mutter, ich bin beides für dich.
Wie kommt es, dass wir so sehr eins im Denken und Fühlen sind, dass wir so viel füreinander sein können?
Auch das muss eine Bedeutung haben.
Ich glaube, ich weiß, welche.
Sagen kann ich es noch nicht.
Bald kann ich es vielleicht.“
„Nun musst du wirklich ruhen, Vater.
Du strengst dich zu sehr an.“
An jenem Abend gab er mir einen verschlossen Umschlag in die Hände.
Diesen sollte ich dem Doktor in Verwahrung geben, sagte er.
„Wenn ich dort bin, hoffe ich, dir das, was darin steht, durchzugeben.
Niemand weiß, was darin steht, ich allein weiß es.
Das wäre ein wunderbarer Beweis.
Tu ihn nun weg und gib ihn morgen dem Doktor.“
„Soll ich (dir) noch etwas vorlesen, Vater?“
„Ich rede nun lieber, mein Junge.
Ich habe so viel zu erzählen.
Danach können wir noch lesen.“
Aber er sprach nicht weiter, er schloss die Augen.
Eine große Angst überfiel mich.
Nun stirbt er, dachte ich.
Ich wusste nicht, was zu tun war, und legte meine Hände auf seine Stirn, als ob ich ihn dadurch bei mir halten könnte.
Aber plötzlich schlug er die Augen auf und lächelte mich an.
Sehr ruhig, mit deutlicher, kräftiger Stimme und doch, als spräche er von weit her, sagte er, während ich seine Hand in der meinen hielt:
„Ich lebe bereits dort, mein Junge, und trotzdem noch hier.
Ich weiß nun, dass ich alt bin, sehr, sehr alt.
Es geht nicht darum, was du bist oder was du tust, es geht darum, was du fühlst.
Deutlich ist dies in mich gekommen.
Der Besitz von Gefühl macht dich unermesslich reich.
Dies zu erwerben, (das) kann man nicht studieren.
Man braucht dafür nichts zu tun.
Du musst nur denken, denken, und dann kommt es in dich.
Durch Denken erwacht dein Geist.
Hier auf der Erde ist nur das Wissen von Bedeutung.
Nun aber weiß ich, dass ausschließlich das Gefühl die Himmel, den Raum für uns öffnet.
Ich fühle – und also weiß ich, kann ich nun sagen –, ich fühle, was du nach meinem Tod tun wirst.
Niemand kann dich davon abhalten, sonst würde ich dir den Rat geben, es vor allem nicht zu tun.
Du hast nichts davon, du erreichst dadurch nichts.
Denn nun weiß ich, dass wir das Leben anderer nicht erleben können.
Sie müssen selbst ihr eigenes Leben machen.
Dies alles fällt mir so ein, Theo.
Ob es von mir selbst ist?
Ich bin noch nicht so weit.
Wie gerne würde ich mich mächtig machen, um etwas zu sein.
Verstehe mich nicht falsch.
Groß sein im Gefühl, meine ich.
Ich denke an viele Dinge in diesen Tagen.
Wie gerne wäre ich Arzt geworden.
Aber meine Eltern hatten kein Geld.
Oder nein, so ist es eigentlich nicht ganz.
Das wäre nicht das größte Hindernis gewesen.
Ich konnte nicht gut lernen.
Ich konnte kein Studium absolvieren, da ich nicht denken konnte.
Nun kann ich das wohl und alle Gedanken daran kommen zurück.
Merkwürdig ist es: Ich wäre gern Arzt geworden, aber nun weiß ich, dass auch dies nicht ganz so ist.
Jene Sehnsucht ist nicht von dieser Welt, sie lebt dort – im ewigen Leben.“
Während Vater sprach, hatte er die Augen geschlossen, ich hatte keine Angst mehr, dass er nun unter meinen Händen sterben würde.
Eine große Ruhe erfüllte uns beide.
Ich hielt noch immer seine Hand in der meinen.
„Ich fange erst jetzt an, zu leben“, fuhr Vater fort und seine Stimme blieb kräftig.
„Andere sagen, dass meine Zeit gehabt habe, aber das ist nicht wahr.
Mein Leben fängt nun erst an.
Mein Körper wird schwächer, ja.
Jeden Tag mehr, du wirst es sehen.
Mein Geist jedoch wird kräftiger, tiefer.
Und darum geht es.
Meister Johannes sagte es damals schon, immer wieder kommen seine Lektionen in mir zurück, nicht eine einzige habe ich vergessen.
Wer ohne Wissen des ewigen Lebens lebt, ist lebendig tot.
Darum sagte ich, dass ich nun erst anfange, zu leben.“
Hier schwieg Vater, aber nicht lange.
Sein Geist war unermüdlich, schien mir, arbeitete mehr denn je.
„Es ist eine Gnade, Theo, dass du so jung schon wissen darfst.
Du bist dadurch älter geworden, reifer, bewusster, ernster.
Viele Eltern würden sagen, dass es nicht gut ist, dich – jung wie du bist – in diese schwierigen Probleme hineinzuziehen.
Ich sage ihnen aber, dass es gerade richtig ist.
Du bist jung und dennoch erwachsen und das ist gut.
Dann bist du bald auch nicht so allein.
Junge Menschen brauchen viel Hilfe.
Du wirst dir selbst helfen können.
Du wirst stark sein, nicht wahr, mein Junge?“
Er drückte fest meine Hand.
„Nun musst du schlafen gehen, mein Junge.
Morgen reden wir weiter.“
Die Augen geschlossen und mit einem feinen, fast erhabenen Ausdruck auf seinem Gesicht, so ließ ich ihn zurück.
Er war offenbar wieder in die ferne Welt hineingegangen, diese Welt, in der er bald ewig wohnen würde.
Der Doktor besuchte Vater oft und sprach viel mit ihm.
„Er ist ein besonderer Mensch“, urteilte der Doktor mir gegenüber.
„Und mit einem starken Glauben.
Er scheint mir unermesslich reich zu sein.“
Auf meine Frage nach Vaters Zustand antwortete er mir, dass Vater zwar einen Schwächeanfall hatte, aber trotzdem gesund werden würde.
Er versprach den Brief aufzubewahren; Vater hatte darüber schon eher mit ihm gesprochen.
Vaters Empfindsamkeit wuchs noch immer.
Eines Mittags sagte er plötzlich zu mir:
„Weißt du, Theo, dass du Menschen heilen kannst?“
„Wie kommst du darauf, Vater?“
Groß war mein Erstaunen.
„Du kannst es.
Mit deinen Händen.
Aus deinen Händen strahlt eine Kraft, die heilend wirkt.
Jeder Mensch strahlt sie aus, sogar jedes Tier, sagen sie hier, wo die Meister wohnen.
Bei dir ist sie jedoch besonders stark entwickelt.“
„Ich würde es gern wollen.
Natürlich wäre ich gern ein gutes Medium.
Ich könnte dann etwas für die Menschen tun.
Aber dafür habe ich keine Kräfte.
Zumindest nicht so viele, dass es der Welt etwas nützt.“
„Du hast Gaben, glaube mir.
Du kannst ein schreibendes Medium werden, du kannst heilen und wer weiß, was noch alles.
Ich fühlte es, als du meine Hand festhieltst.
In mich kam Ruhe.
Ich fühlte mich stark und zu vielem fähig, aber das war deine Kraft.“
Noch zweifelte ich.
„Ich muss es erst sehen, Vater.
Ich würde es herrlich finden, aber dann darf es nichts Halbes sein.
Diese halbe Mediumschaft bedeutet mir nichts.“
Wie Vater über alles nachdachte, zeigte sich mir wieder an Folgendem:
Es wurde Zeit, fand er, dass wir einen Notar in Anspruch nähmen.
„Denn bald, wenn ich nicht mehr da bin, wird Mutter dich aufsuchen.
Dann könnte sie es dir sehr schwer machen und das will ich verhindern.
Mutter wird dich fragen, ob sie dann bei dir einziehen darf.
Aber das musst du ihr abschlagen, Theo.
Ich sage dir das mit Nachdruck.
Denn sonst wirst du fortan von ihr gelebt.
Denk daran, sie hat sich noch überhaupt nicht geändert.“
„Wie weißt du das, du hörst doch nichts mehr von ihr, Vater?“
„Ich bekam diese Gefühle von dort, woher ich auch die anderen empfing.
Glaube mir, Mutter kommt.
Und sie hat sich nicht geändert, im Gegenteil, sie ist noch tiefer gesunken.
Sie wird versuchen, dich zu überzeugen.
Wirst du es ihr abschlagen, Theo?“
„Ja, Vater, wenn es dir besser erscheint.
Und ich fühle wohl, dass es so besser ist.“
„Sie wird auch um Geld bitten.
Aber du darfst ihr keins nicht geben, es wird sie nur noch tiefer ins Elend führen.
Gib ihr also keins.
Sie hat übrigens einiges durchgemacht.
Dies ist keine Härte, mein Junge, keine Rachsucht.
Ich habe über alles nachgedacht.
Deine Mutter ist keine Mutter – sie muss noch in der Mutterliebe erwachen.
Mit Mitleid ist ihr nicht gedient.
Sie braucht den Kampf.
Später, wenn sie bewusst ist, wird sie uns dankbar sein.
Vergiss niemals, dass es um ihre unsterbliche Seele geht.“
Vaters Zustand verschlechterte sich beängstigend.
Der Lauf der Dinge überrumpelte den Doktor.
Immer wieder untersuchte er Vater, er ließ keinen Tag aus, ja kam oft zweimal am Tag.
Vater bat ihn, geradeheraus zu sagen, was er dachte.
Und er lächelte, als der Doktor sagte: „Ihr Zustand ist viel ernster, als ich zuerst annahm.
Ich darf Ihnen nicht mehr verhehlen, dass ...“
„... dass ich es nicht mehr lange machen werde, sagen Sie ruhig, was Sie denken“, ergänzte Vater.
„Nur – Sie irren sich wieder.
Sie geben mir noch höchstens eine Woche, ich bleibe jedoch noch etwas länger hier ...“
An jenem Abend bat mich Vater, mich nahe zu ihm zu setzen.
Wie dünn war er in diesen Tagen geworden und wie schlecht sah er aus.
Seine Stimme war nun auch schwächer als sonst.
„Ich gehe noch nicht weg, Theo, auch wenn der Doktor das denkt.
Ich muss noch bestimmt einen Monat leben.
Morgen werde ich dir vielleicht genauer sagen können, wie lange.
Vielleicht bekomme ich es im Schlaf zu hören, dann lebe ich dichter bei jener Welt.“
„Von wem willst du es denn hören?“
„Von einem aus jener Welt, der mich kennt.
Heute Nacht träumte ich und erlebte Folgendes: Ich spazierte dort in der Ewigkeit und traf dort jemanden, eine Frau, die mir zulachte.
Ich dachte, dass ich sie kannte.
Sie sagte zu mir: „Du wirst mich brauchen, ich werde dir wohl sagen, wann.“
„Was sagen?“, fragte ich verwundert.
Sie antwortete: „Wann du hierher kommen wirst.“
„Was tun Sie hier?“,fragte ich.
„Siehst du das denn nicht.
Ich muss mich hier um meine Kräuter kümmern.
Dort hatte ich auch Kräuter, weißt du.
Nun darf ich sie nicht vergessen, denn sie haben mit meinem eigenen Leben zu tun.
Dort war man noch manches Mal töricht; hier nicht mehr, denn in diesem Leben kennt man sich selbst und das Ziel von Ihm hier oben.“
Als ich sie fragte, ob sie mich kenne, wurde ich sofort wach.
Findest du das alles nicht seltsam, Theo?“
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Er wartete meine Antwort allerdings nicht ab und fuhr fort:
„Meines Erachtens kennt sie mich.
Wer sie ist, weiß ich nicht, aber das spielt keine Rolle.
Die Hauptsache ist, dass es jemanden gibt, der über mich wacht.
Ich fühle sie nah bei mir.
Ich habe Vermutungen, aber ich traue mich nicht, daran zu denken.
Dort wartet jemand auf mich, Theo.
Wenn Gott so gut zu mir ist, hoffe ich, dir es nach meinem Tod sagen zu können.“
Seine Stimme war immer schwächer geworden, die letzten Worte waren kaum zu verstehen.
Ich musste mich nach vorne beugen, um sie aufzufangen.
Nun lag er bewegungslos da, er war vollkommen erschöpft.
Einen Monat würde er noch zu leben haben, wie er sagte.
Ich schaute sein eingefallenes Gesicht, seine mageren Hände an.
Er war nur noch ein Schatten von früher.
Noch einen ganzen Monat?
Ich begann, an der Wahrheit seiner Worte zu zweifeln.
Aber am nächsten Morgen war er wieder lebendig, kräftig.
Munter winkte er mich zu sich.
„Ich habe Neuigkeiten, Theo.
Hör mal zu.
Heute Nacht habe ich sie wieder gesehen.
Nun stand sie neben meinem Bett und half mir, einzuschlafen.
Als ich sie fragte, wer sie sei, gab sie keine Antwort, aber sie ließ mich fühlen, dass ich es bald wissen würde.
Wohl sagte sie: „Wenn der Monat um ist, bist du fünf Tage bei mir“.
Theo, zähle mal mit, heute ist der siebte, der siebte von einundreißig, bleiben noch vierundzwanzig übrig, fünf Tage davon ab, bleiben übrig: neunzehn Tage.
Ich habe also noch neunzehn Tage zu leben.
– Was sagst du wohl dazu, Theo?“
Neunzehn Tage.
Neun – zehn – Tage würde er also noch bei mir sein.
Mein Herz zog sich zusammen.
Ich stammelte etwas, sagte, dass ich etwas zu tun hätte und lief aus dem Zimmer.
Doch schon bald ging ich wieder zu ihm, ich schalt mich wegen meiner Schwachheit.
„Du musst stark sein, mein Junge.
Ich würde gerne bei dir bleiben, glaube das.
Aber ich werde gehen müssen.
Dem haben wir nichts entgegen zu halten.
Wirst du stark sein?
Einst werden wir auf ewig zusammen sein.
Und du wirst mich überall fühlen, wenn ich dort bin; ich werde dir bei allem helfen, wenn Gott es mir erlaubt.“
Kurz darauf sagte er:
„Ich habe auch dich heute Nacht gesehen, Theo, du bist draußen herumgelaufen.
Du trugst ein Gewehr in der Hand.
Verrückt ist das, denn du bist ja nicht beim Militärdienst.
Dennoch muss es eine Bedeutung haben.
Ich komme schon noch dahinter.“
Als Vater auch dem Doktor erzählte, dass er noch neunzehn Tage zu leben hatte, folgte ein interessantes Gespräch zwischen den beiden.
Da er wusste, wie ruhig, ja fast froh Vater dem Tod in die Augen sah, konnte er frei heraus sprechen.
„So“, sagte der Doktor.
Sachlich und deutlich skizzierte er den Verlauf, den die Krankheit seines Wissen nehme würde, um daraufhin seine Überzeugung auszusprechen, dass Vater nicht länger als fünf, höchstens sechs Tage zu leben hatte.
Und er bekräftigte seine Behauptungen durch Aufzählung einiger passender Fälle aus seiner langjährigen Praxis.
Vater hörte ihm lächelnd zu und seine Stimme klang sicher so entschieden wie die des Arztes, als er sagte: „Glauben Sie mir, Doktor, hier versagt Ihre Gelehrtheit.
Auch wenn Ihre Wissenschaft nun hundert Mal sagt, dass mein Herz in diesem Zustand sehr bald versagen muss, mein Gefühl sagt mir, dass Sie falsch liegen und dass mein Herz länger durchhalten wird.
Erst in neunzehn Tagen wird es aufhören, zu schlagen!“
Als der Doktor verärgert anführte, dass er als Arzt wahrhaftig wohl wisse, was er sage und sich bei seiner Aussage nur und ausschließlich durch seine gründliche, in der Praxis erprobte Wissenschaft leiten ließe, gab Vater zur Antwort:
„Was weiß Ihre Wissenschaft von den Gesetzen, die in Gottes Universum herrschen?
Mein Herz wird nicht eher aufhören zu schlagen, als diese Gesetze es erlauben.
Zum Schlagen wird es Kraft aus dem Raum schöpfen, der voll ist von Mächten, die wir noch nicht kennen.“
Hier fiel der Doktor ihm ins Wort.
Nochmals, so sagte er, als Arzt habe er hier die Verantwortung, er verbiete ihm nun einfach, auch noch ein einziges Wort zu sagen.
Er fürchte sonst, dass Vater zu erschöpft würde, was in diesem Stadium fatal sein könne.
Und abermals lächelte Vater.
„Bist du nicht zu sicher, Vater?“, fragte ich ihn, als der Doktor weg war.
„Früher ...“
„Früher wurden wir auch schon zum Narren gehalten, willst du sagen, Junge.
Oh, nun ist es völlig anders.
Damals sollten wir etwas bekommen – jetzt erlebe ich es.
So sicher, wie ich weiß, dass mein Ende in den frühen Morgenstunden kommen wird, so sicher bin ich, dass es die Wahrheit ist, die ich erlebe.
Sie, die nun jedes Mal bei mir ist, sagt, dass es eine große Gnade ist, wissen zu dürfen, und ich erkenne dies und danke Gott dafür.“
Nach den ernsten, so fachmännischen Worten des Doktors über Vaters Zustand war mein Zweifel wieder entfacht.
Wie oft waren wir früher bei den Séancen doch betrogen worden, nun empfing Vater seine Weisheit schon wieder aus jener Welt – wer konnte sagen, dass er nicht auch jetzt betrogen wurde?
Vater muss meine Zweifel gefühlt haben.
„Die Tatsachen werden beweisen, wer recht hat, Theo, der Doktor mit seiner Gelehrtheit oder ich mit meiner Intuition.
Halte solange zurück mit deinem Urteil.
Dann wird dein Glaube vielleicht stärker werden!“
Ich wollte aufstehen und sagte ihm, dass er nun wieder ruhen solle, aber er hielt mich mit den Augen fest und bat mich dringend, zu bleiben.
„Glaube mir, Theo, ich weiß, was ich tue.
Ich kenne die Kraft, die mir noch bleibt.
Die Tage, die noch vor mir liegen, will ich nutzen, um mit dir zu sprechen.
Gib mir diese Gelegenheit, Theo, höre mir zu, das ist das Einzige, was ich von dir verlange.
Ich habe noch so viel zu sagen, sie erzählt mir so unwahrscheinlich viel und es betrifft dich ebenso.“
„Wer ist sie?“, fragte ich und bewies Vater mit dieser Frage, dass ich beschlossen hatte, ihm zu glauben.
Mit einem Lächeln dankte er mir.
Darauf fuhr er ernst fort: „Ich bin froh, dass du zuhören willst und nicht dem Rat des Doktors folgst, mich liegen zu lassen.
Wer sie ist?
Nun, ich kann es dir sagen, aber wo werde ich die Worte finden, um dir die Gefühle zu erklären, die nun durch mich hindurchgehen.
Sie lebt auf Jener Seite, in den Sphären des Lichts, sie ist sehr jung und schön und vor allem sehr lieb.
Wenn ich sie sehe, fühle ich mich selbst.
Was das bedeutet, Theo?
Eins zu sein in allem, in deinem Denken und Fühlen eins zu sein mit einem anderen Wesen.
Es ist das Großartigste, was Gott uns schenken kann.
Sie ist meine Zwillingsseele, Theo.
Ich bin so, wie sie ist, und auf ewig gehören wir zusammen.
Du wirst nun auch verstehen können, warum ich Mutter noch liebe und sie wirklich liebe, warum ich ihr dankbar bin.
Mutter tat mir viel Böses an, sie ließ nichts aus, um mir wehzutun, aber nun bin ich darüber froh, denn es brachte mir Erwachen.
Durch sie habe ich mich für meine Zwillingsseele vorbereiten können.
Hinzu kommt noch, dass ich an Mutter wiedergutzumachen hatte, die Bücher haben dich gelehrt, dass wir mehrere Leben auf der Erde gelebt haben.
In diesen Leben fügte ich Mutter Böses zu, ich rief hierdurch die Gesetze wach und diese sind es, die mich nun wieder neben Mutter stellten.
Ich machte an ihr wieder gut.
Liebe, echte Liebe bestand nicht zwischen uns, trotzdem beschlossen wir, zu heiraten; es waren diese Gesetze, die uns zusammenbrachten.
Mutter ging ihren eigenen Weg, getrennt von mir, es banden sie ja keine höheren Gefühle an mich.
Als ich durch mein Leiden für meine Fehler gebüßt hatte, verließ Mutter mich, die Gesetze waren aufgelöst.
Jetzt bin ich ihr für alles dankbar.
Durch die Schläge, die sie mir gab, öffnete sie meine Seele.
Und nachdem sie weggegangen war und mich freigelassen hatte, bekam ich die Zeit, an mir selbst zu arbeiten, mich auf jene Welt vorzubereiten, nach der meine Seele sich ja sehnte.
Hätte sie mich nicht verlassen, wäre mein Leben eine Hölle gewesen und wäre von dieser Vorbereitung wäre keine Rede gewesen.
Sie, die meine Seele ist, war in all diesen Jahren bei mir.
Sie half mir tragen und weckte mich auf.
Sie war es auch, die uns als Meister Johannes Weisheit brachte.
Dennoch unternahm sie nicht die geringste Mühe, uns davon abzuhalten, die Séancen zu beenden, als wir uns betrogen fühlten.
Was sie uns durchgegeben hatte, hielt sie für genug für uns.
Alles berücksichtigte sie.
Stell dir nur vor, dass sie mich in diesen Jahren höher und höher gezogen hätte, mein Verlangen nach jener Welt, nach Liebe, Wärme und Wissen wäre dann unerträglich gewesen.
Für dich war diese Gefahr nicht so groß, dein Zweifel verschloss dich.
Nun, in den letzten Tagen meines Lebens, offenbart sie sich jedoch in all ihrer Liebe, und nun kann ich alles tragen, denn mein Geist lebt bereits in jener Welt, und sogleich, in nur wenigen Tagen, werde ich dort dauerhaft wohnen.
Mein Gott, Theo, alles ist so großartig, könnte ich dir und den Menschen doch nur einen Schimmer davon geben ...!“
Er hatte die Augen geschlossen und lag nun fast bewegungslos da, das Sprechen hatte ihn sichtlich ermüdet.
Ich blieb still an seinem Bett sitzen und dachte über alles nach, was er gesagt hatte.
Mein Zweifel, ja – mein Zweifel verließ mich selten.
Ich konnte einfach nicht so tief glauben wie Vater.
Die Gemütsruhe, mit der er alles von jener Seite annahm, wunderte mich.
Klangen seine Worte auch noch so glaubwürdig, überzeugt hatten sie mich nicht direkt.
Das Buch, in dem ich las und das den Wert der Phänomene in Zweifel zog, hatte seine Auswirkung auf mich nicht verfehlt.
Ich blieb skeptisch gestimmt; so kam es auch, dass die Bücher, die Vater mir zu lesen gab, eine Menge Fragen in mir hervorriefen und Vaters ganzes Reden schaffte sie nicht aus der Welt.
Überrascht sah ich auf, als Vaters Stimme wieder zu sprechen begann und er zu erkennen gab, dass er mir in meinem Nachsinnen gefolgt war.
„Wenn du glauben könntest, lebtest du im Paradies, Theo, genau wie ich.
Du musst deine Fragen jedoch nicht weiter mit dir herumschleppen, Junge, du machst das dann völlig verkehrt.
Schüttle sie von dir ab und leg dich ja nicht mit ihnen schlafen, du ruhst dann nicht aus, sondern stellst Fragen, die unbeantwortet bleiben müssen, weil dein Zweifel dich verschließt.“
Seit der Doktor mitgeteilt hatte, dass Vater noch höchstens fünf, sechs Tage zu leben hätte, waren bereits zwölf Tage vergangen.
Seine und meine Verwunderung wuchsen von Tag zu Tag.
Vaters Herzschlag war so gut wie verschwunden, aber er lebte und redete sogar, oft lange und immer gleich klar.
„Es ist alles so einfach“, erklärte er mir.
„Mein Herz muss weiterschlagen, denn die Gesetze befehlen es.
Und sie, meine Seele, lebt in mir, sie nährt mich mit ihrer Kraft und ihrem Wissen.
So weiß ich also, dass ich dich nach diesem Leben erreichen kann.
Wenn du dich nur für mich öffnest, mein Junge, denn sonst bin ich machtlos.
Ich öffne mich für sie und mein Gefühl sagt mir, sofort und unfehlbar, dass sie es ist.
Du müsstest es kennen, um zu wissen, dass ich die Wahrheit spreche.
Sie sagt, dass jeder Mensch dies erleben kann, jeder, der sich mit heiliger Ehrfurcht, mit Demut öffnet, wird Hilfe, Weisheit und Liebe empfangen.
Und geschieht dies nicht, hat auch das wieder Bedeutung.
Zweifle nicht, Theo, die Tatsachen, du wirst es sehen, werden mir recht geben.
Neige dann dein Haupt und halte das Gefühl fest, das du dann erlebst, und es wird dir nicht mehr schwer fallen, mehr zu glauben.“
Eines Mittags, fünf Tage vor seinem Hinübergehen, ließ er mich mit folgenden Worten überrascht aufsehen:
„Was für eine Zeit, ach, was für eine Zeit, Jack, findest du nicht auch?“
Nun fantasiert er, dachte ich.
Jack?
Wie kommt er auf einmal auf diesen Namen?
Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr er schon fort:
„Weißt du noch, dass wir früher alle beide dasselbe suchten?
Wir wollten alle beide wissen.
Du wolltest herausfinden, was ein Mensch fühlt, was seine Seele in dem Moment erlebt, in dem er zerrissen wird und in den Tod geht.
Und ich wollte genau wissen, warum der Mensch auf der Erde ist, woher er kommt und wohin er geht.
Ich kann nun sagen, dass ich weiß, du versuchst jedoch noch, dahinterzukommen.“
Mit offenem Mund hörte ich zu, stark beunruhigt, was für wirres Zeug gab er nun von sich?
Er fantasierte.
Aber ... war das wirres Zeug, sprach so ein Mensch, der fantasierte?
„Oder suchst du nicht mehr?
Aber nein, dass ist nicht möglich, das Suchen muss noch in dir sein.
Diese Gefühle verliert man nicht so einfach.
Das haben wir doch wahrhaftig kennengelernt.
Nur dein Schwiegervater glaubte nicht daran.
Dein Bruder ist ein guter Kerl, er muss nur etwas mehr Ausdauer haben.
Seine Faulenzerei ist nichts.
Die Zeit drängt, oder etwa nicht?
Dein Leben ist kurz genug.
Dennoch würde ich jene Idee aufgeben, Jack.
Was bringt es dir, ob du nun weißt, was die Seele erlebt, wenn der Körper zerspringt.
Lebensweisheit vielleicht?
Ach nein.
Trotzdem sehe ich, dass du es erleben wirst, merkwürdig ist das.“
Danach schwieg er.
Ich sah nach ihm und fühlte, dass er eingeschlafen war.
Nach einer halben Stunde kam ich zu ihm zurück und fand ihn wach vor.
Er begrüßte mich mit folgenden Worten:
„Hast du Angelica nicht lieb gehabt?
War sie nicht ein liebes Kind?
Was für Augen sie hatte, nicht wahr?
Sie hieß nach dieser Waldpflanze, weißt du das noch?
Ihre Weisheit war weit und breit bekannt.
Ich gewann sie lieb.
Und nun wartet sie auf mich.
Wie es sein kann, dass Angelica wartet?
Angelica aus dem Kräutergarten?
Trotzdem ist es so, und sogar auf unserem eigenen Waldweg wartet sie auf mich.
Wir werden dann Kräuter suchen und sie zu den Kranken bringen.
Ich werde ihr sagen, dass du ein guter Freund bist, Jack.
Sie muss dich empfangen, denn ich möchte es.
Und sie wird dich empfangen, Jack, denn sie hat mich lieb – so lieb.
Ihre Eltern waren dagegen, dass wir uns trafen, aber heimlich, tief im Geheimen suchten wir einander doch auf.“
Wieder umspielte dieses Lächeln seine Lippen, das ich dort in den letzten Tagen so oft gesehen hatte.
Dieses Lächeln blieb, während er nachdenklich vor sich hinblickte, die Augen starr in für mich unbekannte Fernen gerichtet.
Noch spät am Abend kam wieder der Doktor und untersuchte Vater.
Er schüttelte mit dem Kopf, so schwach schlug das Herz, dass es kaum noch zu hören war.
Wie konnte dieser geschwächte, erschöpfte Körper noch leben, fragte sich der gute Mann offenbar.
Er sah mich mit einem Achselzucken an, als wir etwas später im Flur standen.
Er sagte kein Wort, aber in seinen Augen las ich deutlich die Frage: Würde er dann doch noch recht bekommen?
Noch drei Tage hatte Vater nach eigener Aussage zu leben.
Als ob er, lebend in jener anderen Welt, den Besuch des Doktors nicht bemerkt hätte, fuhr er, ohne ein Wort über ihn zu sagen, mit seiner Hand in der meinen fort:
„Weißt du, Jack, dass Angelica es ist, die ihre Flügel über mir ausgebreitet hat?
Weißt du, dass sie wie ein Kind ist und dass sie sich auch jetzt noch um ihre Kräuter kümmert?
Aber störe sie nicht, wenn sie so ernsthaft beschäftigt ist.
Das erträgt sie nicht, und zu recht.
Nur ich darf dann zu ihr kommen, und diejenigen, die sich klein machen möchten, um nur nicht aufzufallen, aus Ehrfurcht vor ihrer Arbeit.
Daran fehlt es den Menschen, Jack, an Ehrfurcht voreinander.
Sie haben keine Ehrfurcht vor einem, der sich ernsthaft mit einer Aufgabe beschäftigt.
Ihr Egoismus oder ihre Neugier lassen sie auf den heiligsten Gefühlen eines anderen herumtrampeln.
Glaube mir, Jack, es ist keine Kleinigkeit, zu wissen, wie man sich dem Mitmenschen zu nähern hat.
Nur dem, der Ehrfurcht besitzt, fällt dies leichter.“
Lang war es hiernach still.
Ich fühlte, dass mich seltsame Gefühlen überkamen.
Was sollte ich von Vaters Worten halten, was ging bloß alles durch ihn hindurch?
So – verwirrt von meinen Gedanken – saß ich an Vaters Bett, noch immer ruhten meine Hände in seinen.
Auf seinem Gesicht lag ein innig glücklicher Ausdruck.
Leiser als sonst, aber mit einem frohen Klang, sagte er plötzlich:
„Herrlich ist es, Angelica, dass du meine Hände festhältst.
Schön ist das Kleid, das du für mich angezogen hast.
Ich stelle mir deine Liebe vor.
Werden wir noch einmal wieder auseinandergerissen werden?
Nein, daran will ich nicht denken, daran brauche ich nicht zu denken.
Ich werde fortan immer bei dir sein, auf ewig.
Mein Gott, kann ein Mensch solch ein Glück ertragen, es tut fast weh, aber es ist ein süßer Schmerz.
Ich freue mich darauf, Angelica, mit dir in den Gärten spazierenzugehen.
War Jack noch da?
War nicht er es, der anklopfte?
Merkwürdig ist Jack, immer hat er etwas anderes.
Ich werde nochmal Sorgen um ihn haben.
Dennoch werde ich ihm dann nicht helfen können.
Angelica – meine Angelica –, schön bist du und lieb, mit dir besitze ich alles.
SIngst du bitte dein Lied für mich?
Tu es, ich werde zuhören und glücklich sein.“
Vater ließ meine Hände los, er schloss die Augen.
War dies noch Vater?
Wie erhaben strahlte sein Gesicht, das offenbar schöner Musik lauschte.
Ich hörte nichts, aber dennoch erlebte ich etwas mit; dies machte Vaters glückliches Gesicht, niemals würde ich den Ausdruck darauf vergessen können.
In jener Nacht, ebenso wie in den vorherigen Nächten, schlief ich auf einem Diwan, den ich ins Krankenzimmer hinüber gebracht hatte.
Wider Erwarten schlief ich die ganze Nacht durch, kein Geräusch und keine Angst, keine unheimlichen Träume störten meinen Schlaf.
Lachend begrüßte Vater mich, als ich meine Augen aufschlug.
„Du hast gut geschlafen, nicht wahr, Theo?
Kein Wunder, Angelica hat dich von ihren Kräutersäften trinken lassen.
Die wirken ganz sicher, weißt du?“
Etwas später am Morgen sagte er mir, dass ich nun eine Krankenschwester ins Haus holen müsste.
Und diese Worte erinnerten mich wieder schrecklich deutlich an das fatale Datum, das nun beängstigend schnell nahte.
„Wenn gleich der Doktor kommt, musst du ihn einmal danach fragen, nach den Kräutersäften, meine ich.
Er wird sie sicherlich kennen.
Nur die Herstellung kennt er nicht.
Jack kennt sie aber.
Jack kommt morgen und dann wirst du ihn sehen.“
Ich fühlte plötzlich, dass er zwei Personen verwechselte.
Jack, wie er mich noch immer nannte, und einen anderen.
Schon bald berichtigte er den Fehler, denn er fuhr fort:
„Das hat man nun, Jack, wenn man alt wird.
Ich denke nun falsch.
Ich verwechsle dich, nicht wahr?
Ich habe jetzt auch so viel im Kopf.
Angelica hat promoviert.
Hättest du das gedacht?
Jetzt sag doch mal was?“
Gerade bei diesen Worten war der Doktor ins Zimmer gekommen.
Ich schüttelte besorgt meinen Kopf, nun fantasierte Vater doch.
Sofort fühlte der Doktor Vaters Puls.
Vater öffnete seine Augen und fragte in lebhaftem Ton:
„Und, Doktor?
Werde ich nun recht bekommen!
Glauben Sie nun, dass ich die Zeit meines Hinübergehens richtig angab?
Übrigens ist es nicht meine Weisheit, sondern die von Angelica.“
Hier konnte ich es nicht länger anhören, mein Kummer überwältigte mich.
Hastig ging ich aus dem Zimmer, ich fürchtete, dass die anderen meine Tränen sehen würden.
Vaters Schelle rief mich jedoch zurück.
Ich nahm mich zusammen und ging wieder hinein.
„Theo, Angelica will, dass du hierbleibst.
Du sollst alles wissen, findet sie.“
Ich setzte mich auf seine Bettkante, war verworrenen Gefühlen ausgeliefert.
Doch als habe er mich sofort vergessen, wandte er sich an den Doktor mit den Worten:
„Ich werde Ihnen sagen, wie es ist, Kollege.
Wir wissen zu wenig über den menschlichen Körper, und über die Seele, das Essenzielle unseres Daseins, wissen wir gar nichts.
Wie sollen wir aber Menschen heilen können, wenn wir die Seele nicht kennen?
Wer die Seele kennt, wird auch den Körper kennen.
Die Seele – der Mensch beschäftigt sich nicht mit ihr, er starrt nur auf den Körper, bis er blind wird.
Die Ursachen der Krankheit, er kennt sie nicht.
Wesen und Entwicklung der Krankheit, in wie vielen Fällen kennt er sie genau?
Der Mensch vertraut auf sein Wissen, auf sein Studium, aber ich frage Sie: Kann ein Arzt darauf vertrauen?
Diese Krankheit ist tödlich, sagt sein Wissen, aber – die Krankheit stört sich daran nicht und lebt weiter.
Oh, ein kleiner, unbedeutender, häufig vorkommender Fall, wirklich nichts Schlimmes, in zwei Tagen gesund, stellt der Doktor in einem anderen Fall fest – und noch bevor ein Tag vergangen ist, ist der Patient tot.
In beiden Fällen erwies sich das Wissen als nicht ausreichend.
Aber welcher Mensch kennt die Gesetze, die hier eingriffen?
Welcher Gelehrte, welche Religion kann uns erzählen, wie die Gesetze, die über Leben und Tod regieren, funktionieren?
Angelica fragt hier zu recht, was weiß der Mensch eigentlich schon über das Leben hier auf Erden und das Leben im Jenseits?
Gibt es einen einzigen Menschen auf der Erde, der sich nicht suchend und tastend, hilflos, unwissend, klein und ängstlich inmitten der unergründlichen Rätsel, die das Leben und den Tod umfassen, bewegt?
Es sind Tausende und mehr, sagt sie, und einst wird der Mensch sie kennen, aber erst, wenn er die Relativität und die Unvollkommenheit seines irdischen Wissens einsieht und demütig und voller Ergebung nicht mit seinem Verstand, sondern mit seinem Gefühl denen zuhören will, die leben, wo Angelica lebt, auf der anderen Seite des Grabes.
Sie jedoch haben Leben und Tod besiegt und sie kennen und erleben die Gesetze, die Gottes All lenken, für sie birgt der Raum, der Mensch, die Seele keine Rätsel mehr.
Sie, Kollege – ich nenne Sie Kollege, denn ich bin es, wissen Sie nun – zucken vor meinem Gerede mit den Achseln.
Sie räumen Ihrem irdischen Wissen einen höheren Wert ein als meiner Intuition, meinem Gefühl.
Ihr Wissen sagte, dass ich noch fünf, höchstens sechs Tage zu leben hätte, mein Gefühl nannte jedoch neunzehn Tage ...
Es sagt auch, dass ich in den frühen Morgenstunden hinübergehen werden.
Es wird sich herausstellen, dass mein Gefühl, welches diese Weisheit aus jener Welt erhielt, richtiger urteilte, als ihr irdisches Wissen es vermochte.
Wird Sie das überzeugen?
Nein – nicht einmal überzeugendere Beweise könnten so etwas erreichen.
Ist es denn dann ein Wunder, dass Gott Seinen Kindern auf Erden nicht sofort die ungeheure Macht all Seiner Gesetze offenbart?
Sie würden sich darin doch unwiderruflich verlieren!
In kleinen Schritten, sagt Angelica, werden wir irdischen Menschen Einsicht in das enorme All bekommen.
Und die Empfindsamen werden es zuerst wissen, denn sie können von den Meistern auf Jener Seite erreicht werden; die Gelehrten hingegen werden sich lange sträuben, (daran) gehindert durch den Ballast ihres menschlichen, also irdischen, also unvollkommenen Wissens!
Angelica sagt, dass ich nun aufhören muss, das Reden hat mich sehr ermüdet.
Übermorgen werden wir es sehen, Kollege.“
In Gedanken verließ der Doktor das Krankenzimmer.
Im Flur jedoch, als er seine Jacke anzog, zuckte er mit den Achseln.
„Merkwürdig ist es schon, was er sagt.
Dennoch ist es, so scheint es mir, nichts anderes als das Fantasieren eines Sterbenden.
Sie können in diesem Zustand sehr eigenartige Dinge sagen.“
Am folgenden Tag lag Vater beinahe bewegungslos da, er sprach kein Wort, nur hin und wieder öffnete er die Augen.
Sie suchten mich und eine große Liebe strahlte mir entgegen.
Dann und wann flüsterte er Angelicas Namen.
Mich überfiel das untrügliche Gefühl, dass er nicht mehr viel reden würde und dass er sich in aller Stille auf sein Hinübergehen vorbereitete.
Tief in meinem Herzen war ich froh darüber, dass er nicht sprach.
Ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass Vater trotz aller guten, schön klingenden Worte das Opfer einer Sinnestäuschung war ...
Konnte es nicht genauso gut sein, dass er, fantasierend, Bruchstücke aus den vielen Büchern erzählte, die er nicht einmal, sondern wohl zehnmal gelesen hatte?
Fing er meine Gedanken auf?
Es musste wohl so sein, denn nun öffnete er zum ersten Mal an diesem Tag seinen Mund und sagte leise: „Ich war weit weg, Theo, mein Junge, aber nun bin ich wieder nah bei dir.
Mach dir nur keine Sorgen, ich rede nicht mehr so viel.
Angelica sagt, dass du nun genug weißt.
Sie bittet dich, alles festzuhalten, was ich dir in diesen Tagen gesagt habe, einst wirst du alles annehmen!
Bleibst du nun nah bei mir, Theo?“
Langsam verstrichen die Stunden, Vater verlor die Aufmerksamkeit für seine Umgebung.
Mit geschlossenen Augen lag er da, hin und wieder bewegten sich seine Lippen, ich konnte jedoch nicht auffangen, was er sagte.
Ich wandte den Blick nicht von seinem Gesicht, seine guten, sanften Züge bohrten sich in meine Erinnerung, niemals würde ich sie vergessen können.
Der heftige, verzweifelte Kummer, den ich fühlte, als feststand, dass Vater nicht mehr von seinem Krankenbett aufstehen würde, war verschwunden, geblieben war ein sanfter, bitterer Schmerz über den nahenden Abschied.
Ich würde Vater jede Stunde meines Lebens vermissen, aber im Wissen – denn daran zweifelte ich nicht –, dass ich ihn einst wiedersehen würde, verlor mein Kummer seine scharfen Seiten.
Ich hatte noch nie zuvor erlebt, wie jemand stirbt.
So sterben zu dürfen erschien mir als eine Gnade, es hatte nichts Schreckliches.
Ernst, vorbereitet, im Reinen mit sich selbst, nachdem er mit allen Problemen, die das Leben ihm auf seinem Weg gesandt hatte, abgerechnet hatte, überströmend vor Liebe für Gott und die Menschen, war Vater bereit, in das neue, das ewige Leben einzugehen.
Die Nacht brach an, Vaters Haltung veränderte sich nicht.
Der Doktor war geblieben, still saßen wir an Vaters Bett, ohne Schlaf, überließen uns unseren Gedanken.
Plötzlich schlug Vater die Augen auf und flüsternd sagte er: „Theo, mein lieber, lieber Junge, nun muss ich fort.
Angelica kommt mich holen, sie wird mich in unser eigenes Haus bringen.
Ist das nicht herrlich?
Sei stark, mein Junge, und freue dich mit mir.“
Und zum Doktor sagte er: „Kollege, meine Zeit ist gekommen.
Angelica bekommt recht.
Denken Sie noch einmal über meine Worte nach.
Einst kommt dann auch für Sie die Zeit, dass Sie Gott und Seine Gesetze kennenlernen werden.
Wenn Theo zu zeichnen beginnt, müssen Sie ihm den Umschlag geben.
Ich werde durch ihn zeichnen und schreiben.
Oh, wie bin ich nun müde ...“
Tief bewegt knieten der Doktor und ich nieder, und als das Licht des neuen Tages die Finsternis der Nacht vertrieb, löste Vaters Seele sich von seinem erschöpften Körper, um in das ewige Leben einzugehen.
Das letzte Wort, das wir von ihm hörten, war der Name – Angelica.
Ihre Vorhersage hatte sich vollkommen erfüllt!