Meine Eltern und meine Jugend auf der Erde

Mir wurde aufgegeben, Ihnen von meinen Eltern und meiner Jugend auf Erden zu erzählen.
Dazu führe ich Sie zurück in das Alte Ägypten, in die Nähe von Memphis.
Es ist ein lieblicher Ort, und die Natur ist wundervoll.
Ich würde Sie gerne in das Haus meiner Eltern führen, in dem ich geboren wurde, und bitte Sie, mir zu folgen.
Mein Vater liebte die Natur sehr und war allem zugetan, was zum Leben gehört.
Er war ein empfindsamer Mensch und überzeugt von den Wundern und Kräften der Schöpfung, zudem war er Naturkenner und ein tief gläubiges und sensibles Menschenkind.
Was er in der Natur beobachtete, war für ihn wie ein Gebet; das erlebte und erfuhr er in der Pflanzen- und Tierwelt.
Unser Haus war darum auch wie ein Paradies.
In jedem kleinen Winkel unseres Hauses standen Blumen und Pflanzen, die er selbst zog.
Es gab auch viele Käfige mit wunderschönen Vögeln.
Wenn er seine Kinder, wie er sie nannte, versorgte, sprach er bisweilen sehr innig und erzählte mir von den Wundern der Natur oder stieg mit mir in diese wundersame Welt hinab.
Dann versuchte er, mir das Erwecken, das Gedeihen der Blumen und Pflanzen und das Entstehen eigener Arten zu erläutern, doch vor allem, wie machtvoll die Natur ist, und wie er selbst zum inneren Leben von Tieren und Pflanzen sprach.
„Siehe, Venry, ich spreche zu meinen Kindern und sie lauschen.
Ich spüre ihren Willen zu leben und zu gedeihen, doch ich muss wissen und verstehen können, wann sie Hunger und Durst haben, sonst kehren sie zurück zu ihrem Vater, den sie mehr lieben als mich.“
„Wie bist du dir so sicher, dass auch sie einen Vater haben?“
„Glaubst du“, war seine Antwort, „dass etwas ohne „Ihn“ geboren wird?“
„Wen meinst du, Vater?“
Dann erwiderte er, voller Glück und wie ein großes Kind:
„Ich meine „Amun-Re“, unseren Gott, den Gott all diesen Lebens, der Sonne, des Mondes und der Sterne, der Bäume und Blumen und Tiere; doch vor allem den Gott von dir und mir und deiner Mutter, des kleinsten Insekts und des wilden Tieres, den Gott der Nacht und des Lichts, der Stille und des Unwetters, der Herrlichkeit im Himmel und auf der Erde, auf der wir leben, der uns kennt und liebt und der uns einst zu sich rufen wird.
Dann, lieber Venry, werden wir niederknien und er wird mich fragen: „Hast du, Ardaty, „Meinem Leben“ das geschenkt, auf das es ein Recht hat?“
Und ich tue mein Bestes, Venry, all dieses Leben zu nähren und zu pflegen, auf dass die Götter mir gnädig sein mögen.“
Ich sah meinen Vater an und fragte:
„Du sprichst von einem Gott und von Göttern!“
„Ja, Venry, ich kenne „Amun-Re“, und es gibt Götter.
Wie andere Menschen das empfinden, das kann ich nicht wissen.“
Dann senkte ich den Blick, denn aus seinen Augen trat ein gleißendes Licht, das ich nicht ertragen konnte.
Nach einer kurzen Weile, als er mich nicht ansah, getraute ich mich wieder, zu ihm zu blicken, und dann lächelte er mir zu, doch ich ging zu meiner lieben Mutter.
Ich fragte sie streng, da in mir Aufruhr, ein Gefühl von Machtlosigkeit und Unverständnis aufkeimte:
„Wer ist mein Vater, Mutter?
Er spricht von einem obersten Gott und von Göttern?“
„Aber Venry, wie kannst du deine Fragen so scharf stellen?
Warum bist du so kurz angebunden?
Mir scheint, du bist zornig.“
„Ich meine damit nichts Besonderes, Mutter, aber Vater erzählte mir vorhin von seinem Gott.
Kennst du seinen Gott, Mutter?“
Meine Mutter sah mich sehr ernst an und sprach:
„Die Dinge, lieber Venry, von denen dein Vater spricht, liegen tief in seiner Seele, und es ist eine Stimme, die aus der Stille und aus fernen Gegenden zu ihm kommt.
Er hört und erkennt diese Stimme.
Ich weiß, mein Junge, dass dein Vater von dieser Kraft gesegnet ist.
Er nennt diese Kraft seinen Gott.
Sein Gott, lieber Venry, kann das Sonnenlicht zu uns führen, kann die Winde wehen lassen und unsere Gärten und Felder bewässern.
Dein Vater sieht die Macht gedeihen und erblühen, und diese Macht lebt in ihm, in dir und mir, in den Tieren und Pflanzen und in allem anderen Leben.
Wie die Blumen erwachen und warum die Vögel singen, wenn ihre Bäuchlein voll sind, so dass ihr Gesang emporsteigt in höhere Gefilde und sogar bis an den Ort, an dem die Götter sind, weiß er schon seit Langem.“
Ich dachte lange über alles nach und fragte:
„Kann man Gott sehen, Mutter?“
„Sicher, Venry, und du wirst das lernen, denn alle Menschen müssen „Ihn“ kennenlernen.
Gib gut acht, Venry, vielleicht wirst du „Ihn“ bald sehen.“
„Du sprichst wie Vater, doch durch wen könnt ihr beide so sprechen?“
„Hör zu, lieber Venry.
Einst lebte in diesem schönen Land ein Priester, und dieser Priester belehrte die Menschen über die unsichtbaren Dinge.
Er erzählte von der Natur und von dem Wirken Gottes, und daraus lernte dein Vater.“
„Und lernte Vater auch aus Schriften?“
„Nein, lieber Venry, aus der Natur, nur aus der Natur und aus den Wundern, die zum Leben gehören.“
„Aber wusste der Priester auch, warum die Vögel zumeist morgens und abends singen, Mutter?
Ob Vater es weiß?“
„Du kannst ihn fragen, und er wird dir antworten.“
„Glaubst du an den Priester und den Gott von Vater?“
„Warum, lieber Venry, sollte ich nicht daran glauben?
Sind die Wunder Gottes nicht unser Besitz?“
Ich dachte über alles nach und fragte:
„Du liebst Vater sehr, nicht wahr, Mutter?“
„Ja, Venry, und du solltest Vater auch sehr lieben.“
Ich ging zurück zu meinem Vater.
„Mutter sagt, dass du mit einem gelehrten Priester gesprochen hast, und dass du ihm Fragen stellen durftest.
Hast du ihn auch gefragt, warum die Vögel morgens und abends so viel singen?“
Mein Vater sah mich mit seinen strahlenden Augen an und sprach:
„Schau mal, lieber Venry, das ist ganz einfach.
Die Vögel singen morgens, weil sie in der Nacht gut geschlafen haben und noch leben; doch am späten Abend singen sie aus Dankbarkeit, weil sie am Tag soviel Nahrung bekommen haben.
Sie sind dann glücklich und froh, und dann beten sie und danken Gott für alles.“
„Wissen sie denn, Vater, dass es einen Gott gibt?
Können sie wie wir „denken und fühlen“ und danken und beten?“
Mein Vater sah mich ernst an und sagte: „Du bist sehr weise, Venry, für die Jahre, die du auf der Erde verbracht hast, doch höre:
Alles Leben auf Erden gehört den Göttern.
Doch alles Leben lebt in einer eigenen Welt, und aus seiner eigenen Welt heraus dankt das Leben seinem eigenen Gott.
Dazu gehören die Vögel und alle anderen Tiere, die Blumen und Pflanzen, auch die Fische, die du hier siehst.
Auf ihre Art danken sie ihrem Gott, so dass die Vögel singen; und ihren Gesang kannst du hören, doch darin liegt ihr Gebet.“
„Und die Blumen und Pflanzen, Vater?“
„Ich sagte dir doch vorhin, dass alle beten und danken.
Von den Blumen kannst du das nicht hören, und du wirst das später lernen, wenn du älter bist.“
„Haben sie denn Ohren wie wir, Vater, und kannst du sie sprechen hören?“
Erneut sah er mich fragend und liebevoll an.
„Komm her zu mir, Venry, und hör zu.“
Er brachte eine Blüte dicht an mein Ohr.
„Hörst du etwas?“
Ich lauschte sehr aufmerksam.
„Nein, ich höre nichts, Vater.“
„Höre genau hin, Venry, und warte, bis sie zur anderen Blüte spricht.“
Ich wartete, hörte jedoch nichts.
„Können die Fische sprechen, Vater?“
„Selbstverständlich“, lautete seine Antwort.
„Tun sie das, wenn wir es nicht hören und nicht darauf achten?“
„Ja, Venry, gerade dann, wenn wir Menschen nicht darauf achten.“
„Und hören sie auch auf das, was ich will, Vater?“
Nun blickte er in meine Seele.
„Was sagst du, Venry?“
„Ob sie auf mich hören, Vater, auf das, was ich will.“
Er blieb mir eine Antwort schuldig und ging zu meiner Mutter.
Als er offenbar mit ihr zu Ende gesprochen hatte, kam er zurück zu mir.
„Hast du die Blumen schon sprechen gehört, Venry?“
Ich tat, als hörte ich ihn nicht, und fragte: „Wenn die Fische aus dem Wasser springen, Vater, freuen sie sich dann? Ist das ihr Singen, Danken und Beten?“
Er lächelte mir zu.
„Ja, meistens.“
„Und sind die Fische älter als die Blumen und die Vögel?“
„Nein“, sagte er, „sie sind gleich alt.“
Ich fragte auch ihn sehr streng: „Woher weißt du das so genau?“
Ohne mir zu antworten, und als ob er bei meiner Mutter etwas zu tun hätte, ging er weg und sprach mit ihr.
Dieses Nicht-Antworten machte mich zornig, und ich ging in die Natur und blieb eine ganze Weile weg, aber vergaß alles.
Später einmal stellte ich meinem Vater neue Fragen über andere Dinge, doch wurde ich dabei plötzlich so zornig, dass mein Vater mich erschrocken ansah.
Er fragte: „Was ist mit dir, Venry?
Habe ich dir etwas getan oder etwas Falsches gesagt?“
Ich antwortete ihm nicht und rannte vom Haus weg.
Erst spät am Abend kehrte ich zurück.
Mein Vater stellte mir Fragen, doch ich begriff selbst nicht, weshalb ich plötzlich so zornig geworden war.
„Ich weiß es nicht, lass mich in Ruhe.“
Er erschrak erneut, denn das war nicht die Antwort eines Kindes, und ich hatte das noch nie getan.
Er sah mich lange und forschend an und ließ mich dann in Ruhe.
Am nächsten Tag war ich wieder ich selbst und hatte alles vergessen.
Doch immer, wenn ich ihm Fragen stellte, übermannte mich heftiger Zorn, und ich spürte, dass er mir keine klare Antwort gab.
So vergingen meine ersten Jahre, und ich wuchs heran.
Ich stellte immer andere Fragen und versuchte wie Vater, mit der Natur zu sprechen, lernte die Besonderheiten der Natur kennen, bis meine Jugend jäh gestört wurde.
Mit meinem Vater war ich in unseren Gärten und stellte Fragen, doch ich erhielt keine klare Antwort.
Im selben Augenblick zwang mich eine andere Kraft, die stärker war als ich, fortzugehen.
Als würde etwas Schreckliches mich verfolgen, lief ich von zu Hause weg.
Wer oder was es war, begriff ich nicht, doch es stieg tief aus meinem Inneren als Wut in mir hoch.
Doch von meinem Vater und meiner Mutter musste ich mich trennen, obwohl ich sie so innig liebte.
Dann ging ich in der Natur herum und versuchte wie mein Vater, zu dem Leben in der Natur zu sprechen; aber die Sprache, die ich sprach, schien keine klare Sprache zu sein, denn das Leben hörte und verstand oder begriff nicht, was ich meinte, wie sehr ich mich auch bemühte.
Ich hatte schöne kleine Fische gefangen, und mit diesen Tierchen spielte ich auf meine Weise.
Einige von ihnen hatte ich ausgewählt und ich wollte, dass sie auf mich hören und akzeptierten, dass ich ihr Herr und Meister war.
Und wie sonderbar das auch sein mag, manchmal konnte ich mit den Tieren machen, was ich selbst wollte.
Stundenlang übte ich und zwang sie, verschiedene Dinge zu tun.
Wollte ich beispielsweise, dass sie ruhig liegen blieben, so konnten sie sich auch nicht mehr rühren und blieben, wo sie waren.
Dieses Kunststück zeigte ich meinen Freunden, denn ich wollte wissen, ob sie das auch konnten, doch sie waren offenbar nicht dazu in der Lage.
So sehr sie auch versuchten, es mir nachzumachen, es gelang ihnen nicht, und ich begriff, dass sie nicht denken konnten.
Was das bedeutete, und warum ich es aber konnte, dafür hatte ich keine Erklärung.
Und darüber mit meinen Eltern zu sprechen, hielt ich für keine gute Idee.
Doch es gab noch andere Kräfte in mir, und auch diese behielt ich ängstlich für mich.
Wenn ich eingeschlafen war, trat ich aus meinem stofflichen Körper heraus.
Dann konnte ich sehr wohl zur Natur sprechen, doch war ich dann sozusagen gänzlich eins und verbunden und lebte dennoch gleichzeitig in einer anderen Welt.
Aus dieser Welt heraus ging ich in den Gärten meines Vaters spazieren und spürte, wie das Pflanzen- und Blumenleben in mich kam.
In dieser Welt konnte ich gehen, wohin ich selbst wollte, während mein stofflicher Körper schlief, und ich selbst mich außerhalb befand.
Dadurch wurde mir klar, dass ich eigentlich zwei Körper hatte, und dass das, was ich nun war, zu einer anderen Welt gehörte.
Dann schwebte ich im mächtigen Universum, und dort, in jenem Raum oder jener Welt, sah ich Menschen, und diese Menschen waren wie die stofflichen Menschen auf Erden, doch alle waren geflügelt und lebten in jener Welt.
Unter ihnen sah ich, dass manche leuchteten und vielleicht zu den Göttern gehörten.
Ich konnte nicht verstehen, warum andere Menschen wie mein Vater und meine Mutter nichts darüber sagten.
Dadurch verstand ich wiederum auch, dass dies etwas Besonderes bedeutete, das ich allein erlebte und kannte.
Doch nur, wenn ich schlief, konnte ich meinen Körper verlassen.
Zudem wusste ich genau, wann ich meinen Körper verlassen würde.
Seltsame Empfindungen quälten mich vorher; ich erlitt einen kalten Schauder, der meinen ganzen Körper erfasste, und dann schlief ich vor Ermüdung ein.
Wenn ich sehr müde war, waren auch die Empfindungen nicht so intensiv, und ich konnte meine nächtliche Reise bald antreten.
Die allererste Reise, die ich unternahm, war das Eintreten und Verlassen meines eigenen Körpers.
Als ich dieses Wunder erlebte, war ich im Geist, also in jener anderen Welt, hellwach und sah in diesen gewaltigen Raum, in dem es immer hell zu sein schien.
Ich trat dann aus meinem Körper heraus und wieder hinein.
Vorsichtig stieg ich immer weiter auf, sogar durch das Dach meiner elterlichen Wohnung hindurch, in den Raum hinein.
Nach kurzer oder längerer Zeit kehrte ich zurück in meinen irdischen Körper und wusste, wo ich gewesen war.
Nach diesen nächtlichen Reisen und Erlebnissen fühlte ich eine ganze Weile nichts Besonderes, aber dennoch hatte ich diese andere Welt kennengelernt.
Dann sehnte ich mich danach, noch einmal weit weggehen zu können, weit weg von meiner eigenen Umgebung, durch die stofflichen Dinge hindurch, die auf der Erde waren.
Kein irdischer Mensch kann stoffliche Dinge durchdringen und auf der Erde tun, was ich dort tat.
Als ich all diese sonderbaren, doch merkwürdigen Dinge erlebte, sprach ich sehr viel mit meinem Vater.
Durch diese Gespräche erfuhr ich, so jung ich auch war, dass auch er nicht alles über das Leben wusste.
Eines Tages sagte ich zu meinem Vater:
„Du sprichst von den Wundern deines Gottes, aber bist du davon überzeugt, dass dies alles ist?“
Er sah mich natürlich sehr erstaunt an und ging wieder weg.
Ich getraute mich nicht, ihm zu folgen, doch erriet, wohin er ging.
Er ging zu meiner Mutter, erzählte ihr von meiner Frage, aber ich konnte nicht hören, worüber sie sprachen.
Und das machte mich zornig.
Diese Gefühle ereilten mich völlig unvermittelt, mit Wucht und spontan, und ich handelte danach.
Doch zunächst suchte ich nach Möglichkeiten, ihr Gespräch zu belauschen, falls dies erneut geschehen würde.
Unser Haus stand allein, und das Haus war umgeben von einem großen Garten, der in viele kleinere Gärten unterteilt war.
Darin standen verschiedene Blumensorten und sehr viele Kräuter und Bäume, die für meinen Vater allesamt eine wichtige Bedeutung hatten.
Aufgrund seiner Naturkenntnisse pflegte er die Gärten des Tempels der Isis und versah sie mit Pflanzen, Kräutern, Blumen und Früchten.
In der Anzucht war er ein Meister.
Ich wollte hinter dem Haus, links und rechts und von meiner Schlafstätte aus versuchen, sie zu belauschen.
Aber auch diese Gedanken waren sehr unerwartet und vor Kurzem in mich gekommen, und mit ihnen noch viele andere Gedanken und Empfindungen.
Ich spürte, so jung ich auch sein mochte, dass ich sie hasste.
Doch ich wusste wirklich nicht, warum ich das tat; eine abscheuliche Kraft und Wut bemächtigte sich meiner bisweilen, wenn mein Vater von seinem eigenen Gott, den Dingen und Wundern der Natur, den Früchten und Blumen und den Kräften der Kräuter sprach, oder wenn er mir keine erschöpfende Antwort gab.
Seine Sicherheit in allem rund um diese Wunder der Natur war für mich Anreiz und Ansporn, ihn noch mehr zu hassen.
Je älter ich wurde und je heftiger die Auseinandersetzungen wurden, um so heftiger wurden die Hassgefühle.
Wenn der Hass in mich fuhr, spürte ich sofort wieder, wie der kalte Schauder mich erfasste, und es war, als würde eine andere Kraft abseits meiner Selbst mich dazu zwingen, meine Eltern zu hassen.
Angesichts meines jugendlichen Alters konnten diese Gefühle und abscheulichen Gedanken nicht in meinem eigenen Seelenleben vorhanden sein.
Ich hatte ein Alter von vierzehn Jahren erreicht, doch mir wohnte ein tiefes und natürliches Gefühl inne, und ich verstand manchmal, von was mein Vater sprach.
Dann untersuchte ich es, überlegte alles und verglich es dann mit meinen eigenen Erlebnissen und ich spürte, dass er als irdischer Mensch sprach, doch als ein Mensch, der ein stark entwickeltes Empfinden, ja, einen starken Glauben hatte, aber dass er über meine eigenen Erlebnisse nichts wusste.
Warum ich plötzlich hassen konnte, wie nur erwachsene Menschen in vollem Bewusstsein hassen, begann ich zu fühlen und zu verstehen.
Doch auch das, was zu ihnen gehörte, auch ihren innersten Besitz und ihre Liebe konnte ich mitunter hassen und sogar verfluchen.
Es erfasste mich plötzlich und wurde immer heftiger.
Ein Gedanke nach dem anderen kam als Gefühl in mich, und diese Gedanken dominierten meine eigenen.
Ob ich wollte oder nicht, ich musste sie spüren und ihnen folgen und gehorchen.
Dann spürte ich noch, warum ich ihnen gehorchte.
Diese Gedanken verliehen mir Macht und Kraft, was ich sehr klar erkannte.
Aber dennoch wollte ich diese schrecklichen Gefühle nicht haben, denn sie ängstigten mich.
Aber wie all diese teuflischen Gedanken sich meiner bemächtigten, habe ich erst später erfahren, als ich mich und die Kräfte meines Hassens und mein Heraustreten kennenlernte.
Meine Eltern waren Opfer, denn man wollte ihr Glück, sogar ihr Leben vernichten, was man zu erreichen suchte, indem man mich gegen sie aufbrachte; meine Gaben wurden gegen ihre Gefühle der Liebe verwendet.
Als ich meinen Vater fragte: „Du sprichst von den Wundern deines Gottes, doch bist du auch davon überzeugt, das dies alles ist?“ spürte er intuitiv, was ich mit meiner Frage meinte, aber er fand meine Frage und all die anderen Fragen, die ich stellte, sonderbar, vor allem deshalb, weil ich immer wieder mit solchen Fragen zu ihm kam.
Doch als er zu mir kam und sagte: „Komm, lieber Venry, wir pflücken gemeinsam Früchte und du suchst dir die schönste Frucht aus“, verschwanden im selben Augenblick meine Zorn- und Hassgefühle ihm gegenüber, und ich war wieder ein normales Kind.
Seine Gefühle der Herzlichkeit und Liebe verdrängten die abscheulichen Gedanken, unter denen ich litt, und machten ein natürliches Kind aus mir.
Dann waren wir ganz eins, unsere Harmonie wurde durch nichts getrübt; ich verstand meine Eltern vollkommen und war, wie andere Kinder sein können, ein fügsames und liebevolles Kind für meine Eltern.
Wochen und Monate konnten verstreichen, in denen Ruhe in mir war; auch mein Schlaf war ganz normal, und ich blieb in meinem eigenen Körper.
Doch auf welche Weise es zu mir und in mich kam, blieb für mich ein großes Rätsel und es war, als träfe mich ein Feuerstrahl aus dem Himmel.
Wenn ich meinem Vater folgte, wenn er meiner Mutter seine tiefen Gefühle zusandte, überkam mich zuerst eine unnatürliche Wärme, doch nach dieser Wärme wurde ich eiskalt; dann kam dieser schreckliche Hass in mich, sodass ich mir auf die Lippen beißen musste, um die Worte und Gedanken, die in mir aufstiegen, zurückzuhalten, sonst hätte ich sie als alles, was hässlich und grob ist, beschimpft.
Wenn sie mich hingegen mir selbst überließen, so sanken dieser Hass, die Wärme und die Kälte in mich zurück und ich wurde von allein wieder natürlich.
Doch sein Keine-Antwort-Geben, und auch seine Verrichtungen mit den Tieren, versetzte mich in diesen unnatürlichen Zustand, entfachte meinen Hass, weshalb ich das Haus verließ und in die Natur ging.
Stunden später, oftmals erst bei Nacht, kehrte ich nach Hause zurück.
Als er sich keinen Rat mehr wusste, sprach mein Vater darüber mit dem Hohepriester.
Er rief mich zu sich.
Im Tempel der Isis wurde ich in einen Raum gebracht und sollte mich etwas ausruhen, wie er sagte.
Was die Priester mit mir taten, weiß ich nicht; ich schlief bald ein und erlebte sodann eine neue Reise.
Nachdem ich einmal aus meinem Körper herausgetreten war, spazierte ich in den Gärten umher, pflückte Blumen und sprach mit den Vögeln und anderen Tieren, die frei umhergingen.
Es waren welche unter ihnen, die mich in dieser anderen Welt sehen konnten, und meine Liebe für all dieses Leben hatte sich offenbar auch dort nicht geändert.
Danach ging ich in andere Gärten, denn der Tempel der Isis war von vielen Gärten umgeben, in denen die Priester ihre Kräuter, Pflanzen und Obstbäume pflegten.
Als ich dort umherging, sah ich ein Mädchen zu mir kommen, das wie ich auch einen Spaziergang machte.
Ich fragte sie, woher sie käme und was sie beim Tempel täte, und sie antwortete:
„Ich bin gekommen, dich zu grüßen und meinen Namen zu sagen.
Ich heiße Lyra.
Wie heißt du?“
„Venry ist mein Name“, sagte ich.
Doch plötzlich erfasste mich eine gewaltige Kraft, und ich wurde in ein gänzlich anderes Bewusstsein emporgehoben, woraufhin ich fragte:
„Spürst du, Lyra, wie ich jetzt bin?
Dass ich bereits seit vielen Jahrhunderten warte?
Ist es mir nun gegeben, dich sehen zu dürfen?“
Als ich ihre beiden Hände in meine nehmen und sie küssen wollte, sagte sie zu mir: „Du sprichst jetzt, als wärest du sehr alt, und du bist auch sehr alt, aber du darfst mich jetzt nur sehen.
Das Bewusstsein, in dem du nunmehr lebst, ist nun geweckt, denn ich weiß, dass du viel jünger bist.
Du kannst jetzt als erwachsener Mensch sprechen, aber ich weiß, dass du mir gehörst; wir beide sind eins in allem und werden uns wiedersehen, denn „Er“ sagt es.“
Als ich sie fragen wollte, wer „Er“ sei, löste sie sich vor meinen Augen auf und verschwand.
Auch vor mir verschwamm das, worin ich lebte, und als ich erwachte, stand ein Priester vor meinem Ruhelager.
Er bat mich, ihm zu folgen, und brachte mich zu meinen Eltern.
Bei ihrem Gespräch durfte ich nicht zugegen sein, aber ich hatte nun eine Stelle, von wo aus ich sie belauschen konnte.
Der Priester sagte zu meinen Eltern: „Glaube mir, lieber Ardaty, dein Kind besitzt große Gaben.
Wir werden den Jungen in einiger Zeit zu uns nehmen und ihm die Schule geben, die er braucht.
Wir haben seinem Geist folgen können, und wir haben Gaben entdeckt, die ihm Die Großen Schwingen verleihen werden.
Von den üblen Einflüssen habe ich ihn nun erlösen können.
Ihr tut gut daran, auf ihn achtzugeben.
In einem Jahr kann er zur Priesterschaft ausgebildet werden, und wir werden seine Gaben entwickeln.“
Er sagte noch mehr, doch das konnte ich nicht hören. Dann ging er fort.
Auch ich entfernte mich und kehrte erst Stunden später zu meinen Eltern zurück.
Jetzt war ich wieder ich selbst.
Die Monate verstrichen.
Mein Vater erzählte mir von der Natur, doch ich sagte ihm nichts von meinem eigenen Geheimnis.
Dennoch begriff ich, dass meine Eltern davon sprachen und dass sie das flüsternd taten, weil sie mich ertappt hatten.
Eine Weile später unternahm ich wieder nächtliche Reisen.
Es lag noch eine vage Erinnerung an die Begegnung mit dem Mädchen in mir, und es war, als hätte ich geträumt.
Eines Nachts jedoch lernte ich denjenigen kennen, der mich zu all den schrecklichen Dingen anspornte und der die Ursache für meinen Hass gegenüber meinen Eltern war.
Die Hilfe der Priester erwies sich gleichwohl nicht als ausreichend.