Meine Ausbildung zum Priester

Als ich erwachte, war Dectar bei mir.
Ich lag in einem gemütlichen und kleinen Zimmer und roch den Duft von Kräutern, von denen ich wusste, dass mein Vater sie angebaut hatte.
Dectar sagte:
„Von beiden, lieber Venry, nur von deinen Eltern.
Auch habe ich eine Nachricht für dich.“
„Schon jetzt, Dectar?“
„Ja, schon jetzt, und sie lautet:
„Lieber Venry, du bist in guten Händen, doch wache über dich selbst.
Wir beide sind sehr glücklich und am Leben.
So Gott will, wirst du uns sehen, doch beeile dich nicht.“
„Das ist alles, Venry.“
„Ich bin Euch sehr dankbar, Dectar.“
Meine Eltern verstand ich, ihre große Liebe fühlte ich in mich kommen.
„Weißt du, Venry, wie lange du geschlafen hast?“
„Nein, das weiß ich nicht, aber ich fühle mich ausgeruht.“
„Sieben Tage und Nächte, mein Freund, hast du geschlafen.“
„Wie ist das möglich, Dectar!“
„Das kommt durch das, was du erlebt hast.“
„Warum wolltet Ihr das?“
„Nicht nur ich, Venry, auch die Hohepriester wollten, dass du es erleben würdest.“
„Und Ihr wusstet das zuvor?“
„Ja, alles, auch das Erdbeben haben die Meister zuvor gesehen, doch du solltest bis zum allerletzten Augenblick bei deinen Eltern bleiben.“
„Wusstet Ihr, dass ich schweben würde, und dass es geschehen würde?“
„Auch das, Venry, da sind wir uns ganz sicher, doch es gibt noch viel mehr.
Du hast gesehen, dass ich deinen Gedanken und Gefühlen folgte.
Das, was ich nun sagen werde, gehört bereits zu deiner Ausbildung, also kannst du mir Fragen stellen, die ich beantworten werde.
Dann möchte ich, dass du klar denkst und die Fragen so einstellst, dass wir immer weiter und weiter gehen können.
Frage nicht das, was zuletzt geschah; beginne bei den ersten Dingen, denn das müssen wir tun, und das sind die Gesetze dieses Tempels.
Kann mein Freund mir folgen?“
„Ja, Dectar, ich werde aufmerksam zuhören und ich weiß, was Ihr meint.“
„Zudem ist es mein Wunsch, Venry, dass du ganz du selbst bist, dass du mich akzeptierst als deinen Freund, und nenne mich bitte beim Namen.“
„Ich danke Euch und werde das tun.
Wozu ist das nötig, Dectar?“
„Ausgezeichnet, sehr gut, Venry, diese Frage höre ich sehr gern, und ich bin dir sehr dankbar.
Das deutet auf Gefühl hin und darauf, dass du du selbst bist, es deutet auf Ruhe und Anpassen hin.
Mach weiter so, Venry, wir werden schnell Fortschritte machen.
Das ist nötig, weil nichts dein inneres Empfinden und Denken stören darf.
Wie du bei deinen Eltern warst, so solltest du auch hier sein.
Da hast du fühlen und klar denken können, und das war sehr gut.
Du hast empfangen, gesehen und erlebt, und darin musst du ganz du selbst sein.
Ich möchte deshalb auch nicht dein Meister sein, sondern dein Freund.
Doch wir müssen die Gesetze dieses Tempels befolgen.“
„Mussten meine Eltern also sterben, Dectar?“
„Ja, Venry, sie beide verstanden und fühlten es.
Nun sind sie im Himmel.“
„Wäre es also nicht möglich gewesen, trotzdem, bevor es geschah, zu verscheiden?“
„Nein, Venry, denn ihr Übergang ist ein Gesetz.
Und jene, die das fühlen, gehorchen diesen Gesetzen und tun, wie es zu ihnen und in sie kommt.
Viele andere Menschen fühlen nichts dergleichen und werden dann auch verscheiden und flüchten.
Doch sie täuschen sich selbst und werden dennoch sterben, weil die Götter wissen, was sie tun.
Solche Empfindungen, lieber Venry, die bereits lange zuvor zu uns kommen, berühren das unendliche Bewusstsein, und darin lebte deine Mutter.
Du dachtest wahrscheinlich, es sei jedem beschieden, doch ist diese Geisteshaltung eine Abstimmung, welche die Jahrhunderte miteinander verbindet, und die du später kennenlernen wirst.“
„Es gibt also kein zu frühes Sterben, noch ein zu spätes Verscheiden, Dectar?“
„Können die Götter etwas zu früh oder zu spät tun?
Geht die Sonne zu spät unter, oder geht sie zu früh auf?
Kennst du das „Wieso und Warum“ von Zeit, Venry?
Du wirst das in diesem Tempel lernen, denn in dir sind diese Kräfte, und wir werden sie ausbilden.“
„Warum musste ich den Sprung machen, Dectar?
Ich hätte doch eher verscheiden können, und dann wäre mir all diese Angst erspart geblieben?“
„Ausgezeichnet, Venry, mach weiter so, eine schöne Frage und klare Gedanken.
Hat mein Freund nicht gespürt, dass etwas Wundersames geschah?“
„Meinst du die Leichtigkeit, Dectar?“
„Genau, Venry, dieses wundersame Gefühl, das dich erfasste, das dich so leicht machte wie einen Vogel in der Luft und die Schwerkraft aufhob.
Die Kraft erwachte und versetzte dich in den Zustand.
Doch warum, wirst du fragen, warum haben wir bis zum letzten Augenblick gewartet?
Du kannst es nicht wissen, mein Freund, und ich werde dir diese Gesetze jetzt auch nicht erklären, denn das kommt später.
Lass es dabei bewenden, wenn ich sage, dass es Gaben sind, die zwei Welten repräsentieren, welche die physischen und psychischen Kräfte bedeuten.
Die Meister sind dir gefolgt, doch allein durch die Angst erwachten die Kräfte in dir, und du erlebtest binnen kurzer Zeit die Erfahrung vieler Jahre.
Um diese Kräfte zu erwecken, benötigen wir geraume Zeit, und nun ist das in nur wenigen Sekunden in dir erwacht.
Doch später wirst du das verstehen, und auch, warum die Meister es so gewollt haben.“
„Ich habe das Gefühl, Dectar, dass ich jetzt tiefer und klarer denken kann.
Ist das nun darauf zurückzuführen, und hat auch das damit zu tun?“
„Sehr gut, hervorragend sogar, Venry, ich bin begeistert.
Fühle und denke weiterhin darin, dann werden wir rasche Fortschritte machen.
Vorhin sagte ich dir bereits, in nur wenigen Sekunden hättest du lange Zeit gelebt.
In uns Menschen liegen viele Kräfte, doch diese Kräfte sind uns nicht bekannt.
Die meisten Menschen können nicht einmal denken, Venry.
Sie schlafen, obwohl sie glauben und fühlen, dass das große Bewusstsein in ihnen ist.
Doch ihr ganzes Leben lang schlafen sie, und ihr Schlaf ist tief, und dennoch sind sie wach.
Doch dieses Wachsein wirst du hier kennen und verstehen lernen, und dann spürst du sofort, wie wenig die Menschen über sich wissen.
Kannst du mir folgen, Venry?“
„Ja, Dectar, ich verstehe dich.
Wenn es erwacht, fühlen sich die Menschen, wie ich mich fühlte, als ich dort war und auf der Erde?“
„Genau, so ist es, Venry, halb wach, also halb am Leben sein, und doch glauben sie „zu fühlen und zu denken“, wie wir leben.
Aber das ist nicht wahrhaftig, nicht wirklich am „Leben“ sein, das ist schlafen, sehr tief schlafen.
Du wirst das kennenlernen, Venry.“
„Du weißt viel über die Menschen, Dectar?“
„Wir wissen sehr viel, Venry, aber dennoch nicht alles.“
„Von mir wusstest du doch alles?“
„Die menschlichen Gefühle, mein Freund, sind nicht tief, und darüber wissen wir alles, doch was zwischen „Leben und Tod“ lebt, hoffen wir nun kennenzulernen, obwohl uns bereits vieles bekannt ist.
Hier wirst du lernen zu denken, Venry, wie du es noch nie gekonnt hast.
Und darin wirst du die Priesterschaft erlangen.“
„Kommen auch andere Menschen hierher, Dectar?“
„Sicher, doch sie kehren ins Leben zurück und haben hier gelernt, wie sie denken und fühlen müssen.
Sie lernten hier zu sprechen, Venry, und sind bereit, unter Menschen zu leben, und sie werden sich groß machen, doch auch diese Größe ist uns bekannt.“
„Muss ich eine andere Sprache erlernen, Dectar?“
„Nein, Venry, bei dir ist das nicht notwendig, für dich ist alles anders, und später werde ich dir davon erzählen.
In dir sind Kräfte, und diese Kräfte werden wir erwecken.
Das sind Gaben, Venry, angeborene Gefühle, und du hast sie von den Göttern empfangen, wofür du sehr dankbar sein solltest.
Nur Naturbegabte besitzen diese Kräfte und Eigenschaften, und man kann sie nicht erlernen.
Wir wussten davon und wollten deshalb, dass du bis zum allerletzten Augenblick bliebst, sodass wir bereits jetzt mit deiner Ausbildung beginnen können.
Diese Kräfte sind anders als „Seine“, nicht wahr?“
„Du meinst jene, von denen ich besessen war?“
„Ja, Venry.
Diese Kräfte bedeuten Ruhe, doch sie sind sehr machtvoll und können dich genauso gut auch unruhig machen, weil du die gewaltigen Mächte nicht verarbeiten kannst.
Doch auch davor brauchst du keine Angst zu haben, ich werde dir helfen.
Du fühltest dich so leicht wie ein Vogel in der Luft und könntest einen Vogel zwingen, zu dir zu kommen.
Nicht wahr, Venry?“
„Du bist ein Meister, Dectar, und du weißt alles.“
„Von dir weiß ich alles, Venry, und wir sind eins im Fühlen und Denken.
Jetzt bist du gänzlich abgeschlossen.
Dein Seelenhaus werde ich öffnen; du kannst gegenwärtig nicht sehen, jedoch tief, sehr tief fühlen.“
„Habe ich deshalb so lange geschlafen, Dectar?“
„Auch deshalb, Venry, doch dein Sprung hat dich vollkommen erschöpft.
In jener Zeit bist du gänzlich abgeschlossen und kannst nun auch nur an mich denken und an das, was du lernst.
Später werden deine eigenen Gefühle wieder in dich zurückkehren, jetzt jedoch musst du mir folgen.
Versuche, an deine Kindheit zu denken, Venry, und du wirst erleben, dass es nicht möglich ist.“
Ich tat, um was Dectar mich bat, doch ich konnte weder fühlen noch denken, in mir hatte sich eine Leere gebildet.
Ich konnte bis zu meinem Sprung zurückdenken, tiefer und weiter war nicht möglich.
„Warum ist das so, Dectar?“
„Zunächst um dir zu helfen, sodass deine Kräfte dich nicht überrumpeln und du du selbst bleiben kannst.
Doch vor allem, weil wir völlig leer beginnen sollten und nicht dort, wo reichlich Licht in dir ist.
Das sind also alle Ereignisse, die du erlebt hast?
All diese Jahre muss ich entweder abbrechen oder abschließen.
Aber jetzt, da ich weiß, was dich erwartet und was dein Leben gewesen ist, schließe ich nun all diese Erlebnisse vorübergehend ab, und wir fangen an, als du zu mir kamst.
Ab diesem Augenblick hat auch deine Ausbildung ihren Anfang genommen.
Alles andere, Venry, wirst du also vorübergehend vergessen, weil nichts in dir sein sollte, das dein neues Leben stört.
Aus der Finsternis heraus, die du als Leere empfindest, fahren wir nun fort.
Allein jene Gedanken und Gefühle können nun in dir sein, und du fühlst sicher, dass das nur durch unsere Hilfe möglich ist.
Wir fangen also an bei dem Zeitpunkt, zu dem du dich dem Tempel nähertest, doch später kehrt auch deine Kindheit wieder zu dir zurück.
Schlaf jetzt, Venry, morgen früh komme ich wieder, denn es ist Abend.
Du wirst ruhig schlafen, mein Freund, nur schlafen und nicht träumen, du wirst an nichts denken, weil ich das will und die Meister es wünschen.“
Während er sprach, fiel ich bereits in einen tiefen Schlaf.
Ein lähmendes Gefühl und eine wohltuende Ruhe überkamen meine Seele.
Groß waren die Kräfte dieses Menschen, und dann wusste ich nichts mehr.
* *
*
Ich hatte ein Alter von fünfzehn Jahren erreicht, und meine Ausbildung sollte nun beginnen.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Dectar bei mir und sagte:
„Guten Morgen, Venry, hat mein Freund gut geschlafen?“
„Ja, Dectar, ich fühle mich herrlich ausgeruht.“
„Hier habe ich ein Mahl für dich und dein Gewand.“
Auf einer Schale lagen einige Früchte, und daneben stand ein Becher Fruchtsaft.
Ein gelbes Gewand mit einer blauen Kappe und einem roten Gürtel lag auf einer Bank.
Über der Stelle meines Herzens sah ich ein Zeichen, und dieses Zeichen stellte mein inneres Leben und Hiersein dar.
Auch Dectar trug ein gleiches Gewand, doch hatte der Stoff eine andere Farbe, aber das Zeichen, das ich bei mir sah, trug auch er.
Er fühlte mich bereits.
„Dieses Zeichen, lieber Venry, können nur Naturbegabte empfangen, und du gehörst dazu.“
„Hat Ihr Gewand die Farbe Eures Wissens, Fühlens und Denkens?“
Er lächelte nur.
„Mach dich bereit, Venry, du wirst das Gebäude kennenlernen, wir werden einen Spaziergang machen.
Ich komme alsbald wieder.“
Ich brauchte nicht viel Zeit, um mich bereit zu machen.
Ich aß die Früchte und trank den Saft, und als ich fertig war, trat Dectar ein.
Ich begriff, dass er mir folgte und wusste, dass ich bereit war.
„Jetzt machen wir einen Spaziergang, Venry.
Nun wirst du sehen, was geschehen ist.“
Ich war bereit und folgte meinem Meister.
Sein Körper lehnte sich beim Gehen etwas nach links, was mir bereits früher aufgefallen war.
Manchmal ging er aufrecht wie ein normaler Mensch.
Als ich daran dachte, wandte er sich um und blickte mir tief in die Augen, sodass mich Trauer erfasste.
Doch dann ging er mir weiter voraus, und wir durchquerten lange Säle und Korridore, betraten einen Raum nach dem anderen, begegneten jedoch niemandem.
Es schien, als sei dieses Gebäude mit all seinen Bewohnern eingeschlafen.
Dann traten wir ins Freie, und ich erblickte die wunderbaren Gärten des Tempels der Isis.
Es war ein herrlicher Morgen, die Sonne überstrahlte all dieses Leben.
Ich war jetzt in den Gärten der Isis, dem Tempel der Weisheit, die den Quell des Lebens kannte und besaß und der Menschheit durch die Seher und Seherinnen Wissen gebracht hatte.
Wir gingen vorbei an schön angelegten Beeten und Gehegen, in denen viele Tiere und sogar wilde Tiere, Vögel und Insekten eingesperrt waren; dann besuchten wir die Obstbäume, die Kräutergärten und alle Pflanzen, die dem Inneren des Menschen dienten.
Als wir eine Weile umherspaziert waren, ohne auch nur ein Wort miteinander gesprochen zu haben, sagte er zu mir:
„Was du siehst, Venry, wurde alles durch die Meisterschaft deines Vaters zum Wachsen und Blühen gebracht.
Er war der Meister all dieser Schönheit.
Wenn er in ihre Mitte kam, sandten Blüten ihm ihre Düfte, und die Vögel sangen ihm ihren Morgengruß, und die anderen Tiere tanzten vor Freude umher.
Doch all dieses Schöne besitzt er auch dort, wo er jetzt ist.
Das Leben selbst war auch für ihn die Lehrschule, und dessen war er sich bewusst.“
„Wo ist die Schule, Dectar?“
„Ich bin die Schule, Venry, und ich werde dir beibringen, wie du die Dinge sehen musst, eine Sprache ist dafür nicht notwendig.“
„Warum nicht?“
„Weil sie in dir ist, Venry, eine andere und bessere als unsere.“
„Und werde ich sie lernen zu sprechen?“
„Nur dann, wenn du schläfst und dich zwischen diesen Wesen bewegst, die nicht mehr auf der Erde weilen und wissen, was es zwischen Leben und Tod zu lernen gibt.“
„Und denkst du, dass ich so weit kommen werde, Dectar?“
„Wenn du es sehr ernstlich willst, Venry, wirst du Die Größten Schwingen empfangen.
Doch siehe dort, unter dir, Venry, siehe, wie ein Erdstoß die Erde auseinanderriss, Berge umstieß und spaltete, Flüsse anschwellen und Häuser einstürzen ließ.
Doch wir sind begnadet, weil dieser Ort verschont worden ist.
Dann und wann verschwinden wir und alles, was du siehst, Venry, denn auch das ist möglich.“
„Wisst Ihr es jetzt schon, Dectar?“
„Ich weiß noch nichts, Venry, und würde doch gerne alles erfahren.
Was ich sehe und fühle ist sehr wenig, und deshalb bin ich nicht sicher.
Doch wir werden abwarten, die Götter können es uns geben, sie wissen alles, Venry!“
„Aber Ihr wusstet dies doch bereits lange vorher, Dectar?“
„Wenn ich sage, seit Jahren, kannst du das dann akzeptieren?“
„Meine Mutter sah es im Vorhinein, und ich durfte etwas sehen, war das durch Euch?“
„Ja, Venry, ich sah und spürte es, doch durch mich, aber damit stellte ich unser Einssein auf die Probe.
Bist du glücklich, Venry?“
„Diese Frage kann ich nicht beantworten, denn es ist kein Gefühl in mir.“
„Sehr gut, Venry, du solltest sagen, was du fühlst, nichts anderes, vor allem wenige Worte verwenden und das, was du sagen möchtest, deutlich spüren.
Wirst du das nie vergessen?“
„Ich verspreche es dir, Dectar.“
„Was die anderen lernen müssen, ist nicht für dich; du wirst die Natur kennen und verstehen lernen.
Womöglich erscheint dir das sehr einfach, doch das Schwierige daran wird dir bald klar sein.“
„Ist es denn so schwierig, Dectar, die Dinge in der Natur zu sehen, wie die Natur sie erschaffen hat?“
„Dein Vater konnte das sehr gut, Venry, aber es ist sehr schwierig.
Darin war er ein Meister.
Die Natur sehen zu lernen, mein Freund, damit vergehen viele Jahre, doch du wirst rasche Fortschritte machen.
Die Natur ist deshalb unsere Lehrschule.
Du solltest denken und weiterhin denken, immer versuchen zu fühlen und dabei klar zu sehen, wie das Leben in der Natur und in allen Zeiten ist.
Du musst fühlen können, wie tief der Schlaf der jeweiligen Tiere ist, was das fröhliche Zwitschern eines Vogels sagen will, die störrische Weigerung einer anderen Art.
All diesem Leben sollst du folgen, Venry, du sollst es bis ins tiefste Wesen kennen.“
„Wie soll ich das verarbeiten, Dectar?“
„Wenn du davon erfüllt bist, musst du alles wieder vergessen, denn nach einer Weile kehrt es wieder in dich zurück.
Erst dann ist es dein eigener Besitz und macht deine Person aus.“
„Und das ist so schwierig, Dectar?“
„Deine jugendliche Begeisterung empfindet die Tiefe dessen, was ich sage, noch nicht, aber auch das wird sich ändern.
Zugleich weiß ich, dass du es kannst.
Hier waren viele andere, und sie fühlten sich zur Priesterschaft berufen.
Doch sie konnten nicht denken, Venry, und man schickte sie fort.
All diese Menschen haben kein Gefühl, sie schlafen und erleben das zeitliche Leben.
Von Seelengröße sahen wir nichts, auch nicht in all den vorherigen Leben, und dieses Leben ist zu kurz, um sie erwecken zu können.
Wenn wir fühlen und sehen, dass wir daraus schöpfen können, glaube mir, lieber Venry, bereits dann geben wir uns alle Mühe, aber es ist nicht möglich.
Im Tagesbewusstsein sind sie lebendig tot, in halbwachem Bewusstsein schlafen sie, und in jenem tiefen Unterbewusstsein liegt eine tödliche Müdigkeit, die ihren Willen und ihre Konzentration erstickt.
Siehst du, mein Freund, es ist nicht so einfach.
Falls du die Natur nicht fühlen und ihr nicht folgen kannst, Venry, wirst du später auch nicht den Adler in seinem Flug zurückhalten können.
Der Wille, ihn zu zwingen, zu dir zu kommen, liegt dann nicht in dir, aber uns ist es auch nicht möglich, dich dorthin zu schicken, wo jene leben, die dieses Leben verlassen haben.
Dafür bist du hier, Venry, und wir werden alle daraus lernen.
Wenn du das erreichen möchtest, mein Freund, so folge dem Leben vom kleinsten Insekt und all dem anderen Leben, das in der Natur reichlich vorhanden ist.
Die Unbenennbarkeit all dieses Lebens wirst du dann fühlen und dir zu eigen machen, und du bist dann bereit, die Mächte und Kräfte, die zwischen Leben und Tod sind, gänzlich zu spüren, vor allem aber, diesem Tempel das zu schenken, was die Götter uns zudachten.
Dieses Gefühl ist in dir vorhanden, Venry.
Die Natur schenkte dir innere Schätze, die nur wenigen Menschen gegeben sind.
In dem Leben, in dem du als Kind sahst, liegen viele Geheimnisse, Gesetze, Kräfte und Mächte, doch wir als Menschen sind Teil davon.
Aber es ist an uns, mein Freund, sehr ernst zu denken und zu versuchen, das zu fühlen, zu erleben, was hinter diesem Leben verborgen liegt.“
„Kannst du einen Vogel zu dir rufen, Dectar?“
„Ja, Venry, diese Kräfte sind in meinem Besitz, doch was soll das heißen?
Was heißt es, mein Freund, sich auf ein Ziel einstellen zu können und dennoch eine Machtlosigkeit zu spüren, an der ich zerbreche?
Siehst du den Vogel dort, Venry?“
„Ja, Dectar, er fliegt fort von hier.“
„Das Tier kehrt zurück, Venry, kehrt zu mir zurück, wird und muss zu mir zurückkehren, es kommt, lieber Venry, nicht das Tier, sondern das Leben kehrt zu mir zurück.“
„Tatsächlich, Dectar, da ist der Vogel schon, du hast das Tier in deiner Gewalt.
Du bist ein großes Wunder, Dectar!“
„Auch du wirst das lernen, Venry, und zwar sehr bald; es ist nur so schnell bewusst in dir, weil du den Sprung gemacht hast.
Doch genug jetzt.
Am Nachmittag komme ich dich holen, um dich zu den Hohepriestern zu führen.
Jetzt jedoch wirst du erst ruhen und über alles nachdenken, doch dabei werde ich dir helfen.
Du beginnst bei deiner Ankunft, Venry.
Ich bin in dir und bleibe mit dir verbunden, und du weißt, dass ich dich erreichen kann.
Du kannst tun, was du möchtest, denken oder nicht denken; ich folge dir und muss dir folgen.
In nichts wirst du allein sein, denn auch im „Nichts“ sind wir eins.
Sogar im Schlaf, lieber Venry, in deinen Träumen und wo auch immer dein Geist verweilt, stets sind wir eins, bis du bereit bist und die Priesterschaft erlangt hast.
Die ersten Jahre verstreichen auf diese Weise, die Zeit brauchst du, um klar fühlen und denken zu können, wenn du erreichen willst, was ich vorhin tat.
Wenn ich gut und klar sehe, Venry, wirst du mich übertreffen und uns die Weisheit schenken, von der wir gegenwärtig noch nichts wissen.
Trotz all deiner Empfindungen, lieber Freund, wirst du dennoch vor vielen Kräften achtgeben müssen.
Wenn du dann auch alleine bist, werden dich Gedanken und Mächte und Gefühle überfallen, die keinen Daseinsgrund haben, die dich unvermittelt ereilen, weil der Raum damit geschwängert ist, die jedoch nichts, gar nichts mit deinem eigenen Leben zu tun haben und zu anderen Leben außerhalb des Tempels gehören.
Bezwinge all diese Gefühle, indem du deinen strengen und unbeugsamen Willen darauf einstellst, zwinge dich dann selbst und stelle deine Konzentration so ein, dass du Herr und Meister über dein eigenes Leben bist.
Verbiete die Annäherung dieser nichtssagenden Gedanken, die uns Priester zu vernichten vermögen.
Dulde nicht, lieber Venry, dass deine Gedanken ihren freien Lauf nehmen, wenn du nicht wie ein Sturmwind durch den Raum geschleudert werden möchtest, sondern denke ausschließlich, weil du denken willst.
Was in dich kommt und in dir ist, steht unter der Kontrolle deines kraftvollen und starken Willens.
Dulde nicht, Venry, dass du Spielball jener Kräfte und Gedanken wirst und das Licht, in dem du lebst, sich verfinstert.
Sorge dafür, dass du immer bereit bist, nicht nur im Tagesbewusstsein, also so, wie du jetzt bist und mir zuhörst, sondern ebenfalls im Schlaf.
Es wird dir nun einleuchten, Venry, dass dies alles nicht so einfach ist, doch ich helfe dir, zu denken und tue es gerne.“
„Ich danke dir, Dectar, und werde mein Bestes tun.“
„Jetzt, mein Freund, möchte ich, dass du ruhst.
Doch mache dich in nichts bereit, Venry, auch nicht für mein Kommen, warte in allem ab, denn wir kennen keine Eile, und Eile kann deine Entwicklung töten.“
Dann ging Dectar fort und ich war allein, doch in meinem Kopf wirbelten Tausende von Gedanken und Gefühle umher.