Der Tod meiner Eltern

Die ganze Zeit über fühlte und hörte ich nichts von meinem unsichtbaren Feind, denn ich wurde von vielen beschützt.
Die Priester wachten, und auch diese andere Kraft, die mich zu Lyra geführt hatte, die ihr geistiger Leiter war und für mich eine große Hilfe darstellte.
Die Machtlosigkeit dieses Dämons schien dadurch vollkommen.
An ihn dachte ich nicht einmal mehr.
Meine Eltern waren nun sehr glücklich; ich war ganz anders, wie ein Kind in meinem Alter sein sollte.
Ich blieb nun ganz ruhig, konnte aber manchmal, wie das Erwachsene können, tief nachdenken und Antwort geben.
Die Gefühle kamen aus mir selbst, und ich fand das ganz normal.
Aufgrund dieser weisen Gefühle, die in mir blieben, verblassten all die früheren Geschehnisse, und in mir waren Ruhe und eine ungekannte Stille.
Eines guten Tages nahm ich gleichwohl wiederum andere Erscheinungen in mir wahr, und auch diese waren nicht zu halten.
Es begann mit dem eigenartigen Gefühl, dass ich auf der Erde und auch wieder „nicht“ auf der Erde lebte.
Es war, als lebte ich zwischen zwei Welten, sodass ich mich teilweise auf der Erde und in jener anderen Welt fühlte, und dann traten die eigenartigen Erscheinungen in den Vordergrund.
Um das zu überprüfen, kasteite ich meinen eigenen Körper, doch ich empfand nicht den geringsten Schmerz.
Schnitt ich mir in den Finger oder in ein anderes Körperteil, so blutete es nur ganz kurz und hörte dann auf, so tief der Schnitt auch war, den ich mir zufügte.
Ich zeigte es meinen Freunden, und sie versuchten es auch.
Das Ergebnis war dergestalt, dass sie es nicht wiederholten.
Danach erlebte ich wieder andere Zwischenfälle.
So hell die Sonne auch schien, ob bei Tag oder bei Nacht, jene andere Welt konnte ich nun immer wahrnehmen.
Sogar bei Tag schimmerte jene Welt durch das Sonnenlicht hindurch und breitete gleichsam über alles Leben einen dichten Schleier aus lila und violetten Farben.
Wenn ich anderen von dieser Erscheinung erzählte, konnte offenbar niemand das sehen, und sie waren sehr verwundert.
Doch meine Augen schmerzten, und mein Vater bat Priester Dectar um Rat.
Man gab mir kräftige Kräuter, mit denen ich meine Augen nach Sonnenuntergang betupfen sollte.
So merkwürdig auch das nun wieder war - ich verstand, warum und weshalb ich die Behandlung nach Sonnenuntergang anwenden sollte.
Ich bekam das Gefühl, dass die Sonnenstrahlen auf diese Kräuter trotz ihrer Kraft einen dominierenden Einfluss hatten.
Nach Sonnenuntergang lösten sich die Kräfte von allein.
Auch dachte ich, dass mir die Kräuter nicht helfen würden, weil das Sehen von innen heraus geschah und ich dadurch eine Veränderung in der Natur wahrnehmen konnte.
Ich tat daher, als würde ich gehorchen, verwendete die Kräuter jedoch nicht.
Die Bedeutung der Kräuter war mir nicht klar.
Als jedoch die Gedanken in mich kamen, spürte ich, dass etwas mit meinem Denken und Fühlen nicht stimmte, und dass es vielleicht sehr falsch sein könnte.
Priester Dectar wusste von meinem Fühlen und Denken, weshalb ich begriff, dass mein Tun und Lassen sogar aus der Ferne beobachtet wurde.
Er kam zu mir, weil ich nicht mehr zum Tempel ging.
„Warum befolgst du meine Anweisungen nicht, Venry?“
Ich sah ihn verwundert an und gab keine Antwort.
„Komm, Venry, wir sind doch Freunde.
Warum verwendest du die Kräuter nicht?
Sie sollen deine Augen stärken und die Nerven wieder kräftigen.
Du schaust zu viel in die Sonne, und das solltest du unterlassen.“
Der Priester wusste alles von mir.
„Du siehst, Venry, wir sind ganz eins, und deshalb weiß ich, was du tust.
Jetzt musst du mir zuhören, denn deine eigenen Gedanken sind nicht rein.
Warum hast du die Gefühle nicht befolgt?
Diese Gedanken waren sehr gut und richtig.
Wirst du ab jetzt gut darauf achten, welche Gedanken von Weitem in dich kommen und welche dir selbst gehören?
Und du kannst viel fühlen, Venry, die Kräfte sind in dir vorhanden.
Das sind gleichwohl Prüfungen, Venry, und dadurch sind wir vollkommen eins; das wirst du später verstehen.
Gleich kommst du zu mir, dann gehen wir zusammen spazieren, und du wirst sehr viel lernen.
Doch sage mir, Venry, warum du die Kräuter nicht verwendet hast?“
„Sie wissen doch, warum ich es nicht tat?“
„Ja, das stimmt, aber ich möchte es vor dir hören, Venry.“
„Ich spürte, dass mir die Kräuter nicht helfen würden, weil es von innen zu mir kam, und ich in jener anderen Welt lebte.“
„Sehr gut, Venry, aber du siehst, dass du die anderen Gefühle hättest befolgen müssen, denn deine Augen haben gelitten.
Wodurch konntest du das so deutlich spüren, Venry?
Überlege in Ruhe, wir haben alle Zeit.“
Ich fühlte jetzt, dass er mir half.
In mir stiegen Gedanken auf und ich antwortete: „Es ist ganz natürlich.
Die andere Welt wird immer klarer.“
Als ich fortfahren und ihm alles sagen wollte, stockte ich plötzlich und er fragte: „Du solltest meine Frage beantworten, Venry, nur die Frage, sonst nichts.“
Nun verstand ich unser Einssein und erzählte ihm, wie ich es gespürt hatte.
„Sehr gut, Venry, und sehr deutlich, aber jetzt das andere, was du noch weißt.“
„Wenn ich in die Welt blicke, verliert das Sonnenlicht an Kraft und durchdringt das andere Licht nicht.
Danach sehe ich Farben, sehr schöne Farben, die miteinander verschmelzen.
Ich habe es meinen Freunden erzählt, aber sie können nichts sehen, aber ich kann es immer sehen, auch bei Nacht.“
„So so, und siehst du noch mehr, Venry?
Andere Dinge zum Beispiel?“
„Darin sind viele andere Dinge zu sehen, aber ich kann sie nicht so klar unterscheiden.
Doch in diesem Licht, oder dahinter, lebt etwas, denn da ist Bewegung und ich empfinde Ruhe und Stille, und es ist, als riefe mich jemand.“
Der Priester war erfreut.
„Das kommt, oh, das kommt schon noch, Venry.
Findest du es wunderbar, sehen zu dürfen?“
„Nein, ich finde es ganz normal.“
„Auch gut, Venry, nicht sehnen, mein Junge, denn dann siehst du nicht klar. Alles sollte von allein zu dir kommen.
Darin solltest du sehr ruhig bleiben.“
„Ich weiß, warum Sie das freut.
Auch kann ich mit Ihnen sprechen, ohne meine Stimme zu benutzen, dann bleibt mein Mund geschlossen.“
„Das ist wundervoll, lieber Venry, aber auch das kommt noch.
Ich komme dich bald holen, doch dann werde ich dich zuvor rufen, so, wie du nun mit mir reden möchtest.
Dennoch wirst du mich hören, und dann kommst du sofort.
Es kann in der Nacht sein oder am Abend, wenn die Sonne gerade erst untergegangen ist, aber du musst kommen und darfst keine Zeit verlieren.
Wirst du dann kommen, Venry?“
„Werde ich Sie hören?“
„Aber natürlich, lieber Venry, sehr deutlich wirst du mich hören, und dann kommst du sofort zu mir, und du wirst wissen, wo ich bin.“
„Warum nehmen Sie mich jetzt nicht mit?“
Er lächelte, doch ich spürte sehr deutlich, dass ich ab jetzt unter seiner Kontrolle stand.
Statt mir zu antworten, hatte er sich mit mir verbunden.
„Warum verbinden Sie sich mit mir?“
„Ich werde dich doch rufen, Venry?“
Er grüßte und ging fort.
Jetzt waren wir vollkommen eins.
Als er mich ansah, dachte ich, im Nichts zu versinken.
Mein Bewusstsein versank in mir, und ich war jetzt ein Instrument in seinen Händen.
„Dectar, Dectar“, wiederholte ich seinen Namen einige Male, als ob mir dieser bekannt war.
Vieles war mir noch unklar, doch ich verstand diesen Menschen.
Ich liebte ihn sehr, und doch wusste ich bereits jetzt, dass ich ihm einst im Denken und Fühlen überlegen sein würde, obwohl man ihm jetzt seine großen Gaben, sein Können und seine Weisheit nachsagte.
In mir würde das bewusst werden.
Doch seine profunde Weisheit würde ich kennenlernen, und er würde von mir lernen, weil meine Gaben sich entwickelten.
Es gab Gefühle in mir, die mir sagten, ihn innig lieben zu müssen und ihm wie meinen Eltern zu vertrauen.
Ich hatte ihm versprochen, die Kräuter zu verwenden, bis ich fühlte, dass es nicht mehr nötig war.
Plötzlich kamen die Gedanken in mich und ich hörte ihn leise flüsternd sagen: „Jetzt aufhören, lieber Venry, gehe ruhig schlafen, aber höre auf.“
Ich sandte ihm: „Ich werde Euren Rat befolgen.“
Auch hörte ich ihn sagen: „Danke, lieber Venry, vielen Dank!“
Schon wieder begriff ich mehr von ihm.
Diese Wiederholung, die ständige Wiederholung meines Namens und die ruhige Art zu sprechen; es drang tief in mich ein, und ich musste gehorchen, ob ich nun wollte oder nicht.
In mir stiegen viele Gedanken auf, und so unwahrscheinlich es auch war, es bedeutete nichts Neues für mich, denn ich kannte diese Kräfte.
Je mehr ich an ihn dachte, um so klarer wurde mein eigenes Leben.
Nun jedoch lebte ich unter seinem Willen, Fühlen und Denken; er brauchte sich nur auf mich einzustellen, und ich musste gehorchen.
Er besaß unbestritten wundersame Kräfte, aber auch in mir waren diese Wunder, von denen nur wenige Menschen etwas wussten.
Zum Tempel brauchte ich schon lange nicht mehr zu kommen, und so folgte ich meinem Vater in die Gärten oder half ihm beim Füttern der Vögel.
Ich redete viel mit ihm, doch darüber, was ich über sie beide wusste, sprach ich nicht.
In mir lag eine heilige Ehrfurcht für ihre Liebe zu mir.
Meine Mutter suchte nach Möglichkeiten, mich zu verwöhnen, denn das eine Angenehme folgte dem anderen.
Doch ich bemerkte eine sonderbare, fast verzauberte Atmosphäre um sie herum und sah, dass sie sehr still wurde.
Auch mein Vater schien das zu spüren.
Als wir eines Nachmittags zusammen im Garten waren, sagt ich zu meinem Vater: „Kennst du die Stille, die Mutter trägt und derer sie sich bewusst ist, Vater?“
„Lieber Venry, es gibt Gefühle, die für andere heilig sind und vor denen wir unseren Kopf verneigen.
Mutter wird wissen, warum sie die Stille bevorzugt, und wir werden sie lassen, nicht wahr, Venry?“
„Du betrügst dich selbst“, sagte ich sehr unvermittelt, und fühlte plötzlich wieder die Hassgefühle in mir aufsteigen.
„Denke an deinen Meister, Venry.
Sei ruhig, ganz ruhig, denn dein Leben fängt erst an.
Ich betrüge mich nicht, mein Kind; ich kann mich selbst nicht betrügen, aber es gibt andere Gesetze, die sich in Mächte und Kräfte verwandeln werden und die wir nicht aufhalten können.“
Ich dachte an ihn und folgte ihm in seinen Gedanken und verstand, was er meinte.
„Du gibst dich also völlig hin?“
Er sah mich an und sagte: „So jung, mein lieber Venry, so jung und doch so weise, so tief und natürlich.
Oh, könnte ich es nur erleben, könnte ich nur dem lauschen, was du verkünden wirst, was dein Mund sagen wird und was weit außerhalb dieses Landes gehört oder gelesen werden wird, sodass Pharao auf Pharao akzeptieren wird, was dir gegeben ist, und was geistige Nahrung für die Menschen sein wird.
Komm an mein Herz, mein Junge, dem Allmächtigen möchte ich dafür danken, dass du, Venry, mein Sohn bist, auch wenn unser Zusammensein in dieser Umgebung nur kurz sein wird.“
„Weißt du, was es ist, Vater?“
„Was die Götter sagen oder wollen, lieber Venry, müssen wir befolgen, doch vor allem dem gehorchen, was „Er“ sagt und zu sagen hat.“
Er nahm seine Arbeit wieder auf, doch im selben Augenblick sah ich einen weißen Silberstreif durch die Erde fahren.
Sich windend zog er weiter und bahnte sich einen Weg durch das Innere der Erde.
Ich folgte dem geheimnisvollen Streifen und blickte eine Weile in eine entsetzliche Tiefe, in der ich merkwürdige Dinge geschehen sah.
„Was sehen deine Augen, Venry?“
Als ich ihm antworten wollte, hörte ich in mir sagen: „Sei ruhig, lieber Venry, ganz ruhig und sehe noch nicht, bleibe du selbst.
Hörst du mich?
Dectar spricht, dein Meister!“
„Nichts, ich sehe nichts“, sagte ich zu meinem Vater.
Er schüttelte den Kopf, und meine Vision löste sich auf.
Ich war wieder ich selbst und ging dann zu meiner Mutter.
Sie sah mich kommen, nahm meine rechte Hand in ihre und sagte: „Mein liebes Kind, komm, setz dich neben mich und lass uns ein wenig reden.“
Sie wich meinem Blick aus, und es dauerte noch ein wenig, bevor sie sprach.
„Es können Dinge geschehen, die wir Menschen nicht möchten, und die dennoch geschehen müssen, hast du einmal gesagt.“
„Ich?“ fragte ich, doch sie fuhr fort.
„Wenn diese Dinge geschehen, lieber Venry, so liegen diese nicht in unserer Macht, sondern es sind die höheren Mächte und vielleicht die Götter, die davon wissen.
Manchmal werden sie uns mitgeteilt, oft jedoch auch wieder nicht.
Doch wenn sie uns mitgeteilt werden, so wird nicht gesprochen, mein Junge.
Die Gefühle werden dann in uns hineingelegt und sind dann sehr klar.
Woher sie kommen, weiß vielleicht niemand, und dennoch können wir darauf vertrauen und wir sind uns sicher, dass das, was wir fühlen, geschehen wird.
Ob sie aus der Ferne oder aus der Nähe kommen, auch das ist uns nicht bekannt.
Aber eine innere Stimme heißt uns, nach unserem Gefühl zu handeln und nur darauf zu hören.“
Als sie innehielt und in Gedanken versank, sagte ich: „Du sprichst wie Vater, doch du fühlst etwas, Mutter, und ich weiß, was du fühlst.
Verberge es also nicht vor mir, denn ich weiß es“, wiederholte ich nun sehr bestimmt.
Sie sah mich an und ihre Augen waren voller Tränen.
Dann sagte meine Mutter: „Du hast in meiner Seele gelesen, Venry.
Und das, was du da gelesen hast, hast du bereits eine Weile in dir getragen, und schon allein dafür bin ich Gott dankbar.
Ich danke dir, mein Kind, dass du all die Weisheit in dir hieltest, obwohl du noch ein Kind bist.
Zwischen Leben und Tod wurde dir das gesagt, doch nicht alles ist Wahrheit.
Gedenke unser, wenn wir nicht mehr da sind, doch wisse, dass wir das Glück gekannt haben.
Du bist sehr alt, lieber Venry, denn die Weisheit liegt in deinem Antlitz, in deinen Augen und in deinem ganzen Wesen.
Der Himmel weiß, dass ich nicht bei klarem Bewusstsein war, dass ich litt und doch alles verstand und die Schmerzen hinnahm.
Eine Krone hat keine Bedeutung, lieber Venry, nur das, was dein Vater besitzt.“
„Du weißt alles, Mutter?“
„Ja, mein Kind.
So die Götter es wünschen, wirst du alles wissen.
Wenn du das Licht in dir spürst, Venry, ist das ein Zeichen, dass du alles wissen darfst.
Ich habe die Gesetze des Himmels kennengelernt und blicke hinter die Dinge und kenne dich, lieber Venry, denn bist du nicht wie ich?
Ist das, was in dir ist, nicht auch in mir?
Habe ich die Schule denn nicht durchlaufen?
Ich weiß es, mein liebes Kind, du bist zu uns gekommen mit einem festen Ziel, und du wirst das Ziel erreichen.
Ich werde für dich beten, Venry, dafür, dass die Götter dir eine mächtige Waffe geben mögen, eine Waffe, die keiner von ihnen besitzt.
Doch du wirst dienen, Venry, nur den Göttern dienen.
Das, was du von mir gelernt hast, ist nichts im Vergleich zu dem, was du hinter dem Schleier sehen würdest.
Und dort lebt Gott.
Du wirst das Entstehen von Himmel, Mensch und Tier erblicken dürfen.
Du hast in dir, was wir alle nicht besitzen, und die größten Schätze sind für dieses und das nächste Leben.“
„Woher hast du all diese Weisheit, Mutter?“
Doch sie antwortete auch jetzt nicht und fuhr fort:
„Durch deinen Vater wurde ich geöffnet, Venry, auch dich wird man öffnen.“
Sie hielt erneut einen Augenblick inne und sagte:
„Wirst du mit niemandem über das sprechen, was ich gesagt habe, Venry?“
„Ich verspreche es dir feierlich, Mutter.
Kannst du mir etwas über meine Erziehung erzählen, Mutter?“
„Meister Dectar wird dich lehren, ihm kannst du dich anvertrauen.
Was du derzeit weißt, hast du von mir und deinem Vater und dir selbst.
Aber in den Gärten deines Vaters lebt die natürliche Weisheit, deren Ursprung du sehen wirst und vielleicht erleben darfst.“
„Du wolltest nicht, dass ich lerne, Mutter?“
„Als du geboren wurdest, lieber Venry, war meine Mutter, die längst hinter dem Schleier lebt, bei mir.
Sie brachte mir geistige Blumen und sagte:
„Allein in den Gärten von Ardaty liegt das Geheimnis des Lebens.“
Ich verstand meine Mutter, und sie fuhr fort:
„Auf deiner Stirn, lieber Venry, ruht der Stern unseres Hauses.
Und jene, die dieses Symbol der Weisheit besitzen, werden verkünden, wohin wir gehen und wie die Dinge erschaffen wurden.
Sie werden sehen, wie unser Leben nach diesem Leben sein wird.
Sie kennen das Geheimnis, weshalb die Vögel jubeln und die Blüten Licht verströmen.
Viele Wunder dürfen sie schauen, weil sie sehen und Die Großen Schwingen empfangen haben.“
Ich nahm ihre beiden Hände in meine und küsste sie innig.
Dass wir auseinandergehen würden, wusste ich seit geraumer Zeit.
Deshalb nahm ich mir vor, noch viel mit ihr zu reden.
Mein Vater trat ein und hatte meiner Mutter Blumen mitgebracht; unter denen war eine Blüte von seltener Schönheit, die er „die Liebe“ nannte, und der er den Namen meiner Mutter gegeben hatte.
Für mich Früchte.
Meine Mutter dankte ihm, und eine innige Liebe überstrahlte ihr Leben.
Nach dem Mittagsmahl blieben wir noch lange Zeit zusammen, und meine Mutter sprach mit mir.
Danach gingen wir gemeinsam in den Gärten spazieren und bewunderten das, was mein Vater gezogen und dem Boden entlockt hatte.
Wir sahen die Schönheit des Lebens auf der Erde und waren dankbar für die großen Gaben, uns von den Göttern gesandt.
Mein Vater betrachtete seine Schätze und ich sah, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Auch das verstand ich und spürte seine große Liebe zu all diesem Leben.
Ich hörte ihn sagen:
„Jetzt bist du ausgewachsen und dennoch wirst du zu den Göttern zurückkehren, denn sie rufen uns, meine Kinder.“
Er machte sich von all dem Schönen und Wundervollen los und wir gingen zurück.
Als die Vögel versorgt, die Futtertröge gefüllt und die Blumen geordnet waren, so dass die Ruhestunde beginnen konnte, blieben wir dennoch zusammen.
Im Himmel konnte es nicht schöner sein.
Die Stille hatte uns verbunden, die aus unserem tiefen Innersten emporstieg und wir verstanden.
Dann kam der Drang zu fragen in mich und ich fragte meine Mutter:
„Warum, liebe Mutter, wenn du doch weißt, dass wir uns verlieren werden, gehen wir dann nicht fort von hier?“
Beide sahen mich an, doch meine Mutter antwortete:
„Gesetzen kann man nicht entgehen, lieber Venry.
Der Ort, an dem Sterne und Planeten glitzern und dem sie ihre Entstehung zu verdanken haben, wo Früchte wachsen und blühen und unser Leben ein Gesetz ist, ist geliehenes Gut und gehört den Göttern.
Es wird so geschehen, mein Junge, wie die Götter meinen, dass es gut ist.“
Und mein Vater fügte hinzu:
„Dann wedeln die Palmen uns Lebewohl zu und grüßen jene, die Gott spüren und verstehen, weil das Leben weiß, wer wach und bewusst ist, ebenso wie alle meine Kinder das Lied singen, das nur der Sämann des Lebens kennt und versteht.“
Allein durch mein besonderes Fühlen und Denken konnte ich ihn verstehen, und ich war sehr dankbar.
Meine Eltern waren wach und bewusst, und ihre Liebe war zur vollen Entfaltung gekommen.
Sie verstanden all diese natürlichen Dinge.
Für sie waren es Gesetze, und diese Gesetze würde ich in meinem Leben lernen und sie mir zu eigen machen.
Dann sprach Mutter zu Vater und mir:
„Fühlst du diese Hitze?
Wenn sie andauert und demnächst der Himmel auseinander reißt, so dass der Regen in Strömen niedergeht und die Gewässer anschwellen und über die Ufer treten, die Felder überschwemmt werden und alles Leben getötet wird, gehen wir „ein“.
Fühlst du diese Hitze?“
Auch wir fühlten die Hitze, von der sie sprach.
Es war eine Wärme, die immer stärker wurde.
„Glaube mir“, fuhr sie fort, „lieber Venry, wenn alles zusammenbricht, „der Tempel der Isis“ wird bleiben, muss und wird bleiben, weil die Götter es so wollen.
Auch du bleibst auf der Erde, mein Junge.
Im Tempel wirst du die Wunder des Weltalls kennenlernen.
Du musst bleiben, um all diese Wunder zu sehen, die man nur dort kennt; hinter und in dem Raum kannst du sie wahrnehmen.
Die Götter wollen, dass du bleibst.
Wohin würden wir gehen, wenn für uns alle Wege versperrt sind?
Ich sehe, dass die Tore des himmlischen Landes sich öffnen werden, und meine Mutter mich ruft und auf mich wartet.
Du bleibst, mein Junge, um zu lernen und all die Wunder zu schauen.
Mir ist das nicht gegeben, du jedoch empfängst und wirst gehen, wohin du willst.
Die Kraft, durch die du im Raum schwebst, ist in deinem tiefen Leben vorhanden.
Und vielleicht wirst du zu uns kommen und die Gärten deines Vaters bewundern, die er auch dort besitzen wird.
In seinen Gärten werden wir leben, wird das Unendliche zu uns kommen und das Wissen, warum wir bald hinscheiden.
Einst wirst du uns sehen, wie wir „in“ uns sind.
Du wirst uns sehen, wie du uns nicht kennst.
Doch dann kommen wir zu dir und werden dir helfen, wenn dein Herz unser ist.
Die Liebe, mein Junge, wird das Licht sein und bedeuten, weshalb du den rechten Weg vor dir siehst.
Wie still ist es jetzt um uns.
Für meine Fehler und Sünden, die ich begangen habe, habe ich in der Fülle, die mir das Leben gab, Vergebung gesehen, sodass ich bereit bin.
Deinem Vater, lieber Venry, schulde ich Dank; er gab mir mich selbst wieder, wodurch ich die Gärten des Lebens betreten konnte.
Wer sät, der erntet, und wer verfolgt, was - mit Händen der Liebe gepflanzt - wächst, empfindet keinen Schmerz, kein Leid und keinen Kummer.
Wer sehen will, wird erleben, dass aller Trübsinn weicht und sich auflöst.
Am Leben kann man das Wachstum verfolgen, doch wer „eingeht“, erlebt und erfährt das, was tief im eigenen Seelenleben vorhanden ist.
Mein zeitliches Fühlen löst sich nun in mir auf, das Endgültige ist nun in mir, und es ist wie ein leise flüsterndes Sprechen.
Dennoch versteht mein Herz, und ich spüre, wie es zittert und bebt.
Ich werde daher auch der Stimme meines Herzens folgen, lieber Venry, folge du ihr auch, wie auch immer sie zu dir spricht.
Wenn du spürst, dass du zugrunde gehst, so gehe zugrunde.
Wenn die Stimme dir sagt, in der Liebe aufzugehen, so gehe auf, und wenn sie befiehlt, niederzusteigen, so steige nieder, mein Junge, es geht darum, dem Weg zu folgen, den die Götter dir zeigen und festlegen.
Jenem Weg, lieber Venry, kannst du nicht entgehen, denn wenn es in dir ist, wenn es bittet und in dir ruft, wenn es in dir lodert und dich vorantreibt, kannst du nicht anders handeln.
Wenn du leben musst, kannst du nicht sterben, und wenn du sterben musst, kannst du nicht weiterleben.
Ach, mein Junge, wenn die Stille um dich und in dir ist, so suche sie nicht und warte ab, bist du dir sicher bist.
Zwischen Leben und Tod liegt das Geheimnis, und dieses Geheimnis trägst du in dir, es wird sich entfalten und bewusst werden, und in Worten wirst du es wiedergeben.
Zwischen Leben und Tod liegt das „Warum und Wozu“ und die Antwort auf all unsere Fragen, doch du wirst dort sein und in den Wundern leben, weil deine Schwingen groß sind.
Nur dort, lieber Venry, lebt die Weisheit für uns alle.
Auch in mir schlummert etwas dieses Wunderbaren, mein Junge.
Wenn darum die Stimme sagt, komm, dann wollen wir beide dahin gehen, wo wir empfangen werden und viele uns zusingen und erwarten.
Du bist anders als andere Kinder, lieber Venry, denn du verstehst all diese Dinge.
Wenn keine Weisen auf der Erde gelebt hätten, wüssten wir hierüber auch nichts, und unsere hungrigen Seelen wären umgekommen.
Doch unser Dürsten wurde gelabt durch das, was wir fühlen und sehen und was bereits gegeben ist.
Jetzt gibt es Nahrung auf der Erde, doch aus ihnen und durch sie gekommen.
Eine große Befangenheit überkommt mich, jetzt, da ich spüre, dass sehr viele Jahre verstrichen sind und meine Seele keinen Durst kannte.
Das, was ich empfangen durfte, lieber Venry, hätte unbestreitbar größer und mächtiger sein können, doch meine eigene Sehnsucht nach den Dingen, die auf Erden sind, nahmen mir die reine Beseelung, und nur die ist des Himmels.
Dennoch bin ich sehr zufrieden und darf sein, wie die Götter mich sehen wollen, und ich trete ein.“
Uns umgab atemlose Stille.
Plötzlich sprang sie auf, nahm ihr Instrument und sang ihr Lieblingslied.
In der Melodie brachte sie ihr Empfinden, Denken und ihre große Liebe zum Ausdruck für den, der neben ihr kniete.
Vor ihrem tiefen Einssein empfand ich heilige Ehrfurcht, und ich verstand diese Wesen als Menschen und als Seelen, für die ich mein inneres Schauen verwenden konnte.
Beide gingen dahin „ein“ in das, woher wir sind und was der Raum ist.
Sie fühlten die Stille, die jedoch nicht für mich war, weil ich die Stille noch nicht fühlen konnte und allein von zwei Seelen gefühlt werden konnte.
Doch ich begriff alles.
Als die letzten Akkorde und der Klang ihrer wundervollen Stimme in dieser heiligen Stille verhallten, gingen sie fort von mir und bewunderten die Gärten.
An Schlafen war nun wohl nicht mehr zu denken.
In uns war Ruhe, eine Ruhe, die man Stille nennt.
Ich hatte sie verstanden, so tief ihre Worte auch waren.
Jetzt kannte ich sie, die meine Mutter war, sehr gut.
Ich gönnte ihnen dieses große Glück und ich spürte, dass ich Teil davon war.
Sie blickte hinter die Dinge und erfuhr sie wie in einem Traum.
Doch sie wusste, dass ich allein zurückblieb und bleiben musste, auch diese Gewissheit war ihr eigener Besitz.
Sie war eins, in allem eins, mit dem allerletzten eins, für sie beide „das Sterben auf Erden“.
Bis spät in der Nacht blieben wir zusammen.
Mutter reichte erfrischende Getränke und mein Vater sprach mit den Vögeln, die nicht einschlafen konnten.
Die Blumen ließen ihre Köpfe hängen; die Natur war benommen, denn aus den Gewässern stiegen dichte Dämpfe empor und blieben über der Erde hängen.
Wir saßen hinter dem Haus unter den Obstbäumen, meine Eltern zu meiner Linken und Rechten, und sie hielten je eine Hand von mir umklammert.
Es war Ruhe in uns, und es wurde kein Wort gesprochen.
Wir wären sicher eingeschlafen, was nun jedoch nicht möglich war.
Wir lebten zwischen einem Bewusstsein, das „Leben und Tod“ berührte, zwischen Mächten und Kräften, die außerhalb dieses Lebens eine übergeordnete Macht darstellten.
Bis die Sonne aufging, wollten wir zusammenbleiben.
Meine Mutter lebte in vollkommener Ruhe, auch mein Vater war ganz er selbst.
Doch er sprach undeutlich. Dennoch verstand meine Mutter offenbar jedes Wort und sagte zu ihm:
„Lieber Ardaty, lass ruhig alles zurück, was wir auf unserer himmlischen Reise nicht benötigen.
Alle Kinder, die zu diesem Leben gehören und noch nicht bereit sind, werden hierbleiben.
Das andere Leben wird dort auf uns warten.
Doch wenn deine Liebe dem Vorübergehenden zugetan ist, wozu sich dann vorbereiten?
Lieber Ardaty, gibt es ein tatsächliches Wollen in dir?
Sicher, das Verlockende, das du hier besitzt und das durch deine Meisterschaft entstanden ist, lohnt die Mühe, es zu besitzen.
Dass dein andächtiges Leben diese Tiefe spürt, ist verständlich.
Doch auch in mir gibt es diese Empfindungen.
Doch eine bezaubernde Schönheit, wodurch das Vorübergehende in das Unendliche übergeht und woher diese Stille rührt, überstrahlt unser Leben und Einssein.
Mein innerliches Sehen überbrückt „dieses“ und das andere Leben, und ich sehe unveränderliche Gesetze, die Mächte und Kräfte bedeuten.
Wieder und wieder überkommt mich Rührung, wenn meine inneren Augen das Licht erblicken, in dem die Götter leben.
Das vorübergehende Freiwerden meiner Seele berührt das Leben, das du liebst, doch die Gesetze verlangen lediglich volle Hingabe und das „Hineingehen“ in die Realität.
Solche Empfindungen können dich nicht vernichten.
Die Auflehnung dagegen und gegen das nächste Leben liegt in deiner eigenen Persönlichkeit begründet, doch das Leben fordert von uns vollkommene Sicherheit, denn eine störrische Verweigerung kann uns das Herz brechen.
Wer dem folgt, begibt sich in eine Unwahrscheinlichkeit des Fühlens und Denkens und legt das volle Bewusstsein ab.
Es stößt jeden aus dem heraus, was gänzlich erlebt werden muss.
Glaube mir, lieber Ardaty, ich werde nun nicht erlauben, dass mich eine Mutlosigkeit überkommt, jetzt, da sich die Gesetze in Mächte und Kräfte verwandeln.
Wenn du die atemlose Stille spürst, in der wir leben, so folge behutsam dem erleuchteten Pfad, den die Götter dir bereiten.
Ich weiß auch, dass sich dir nun viele Fragen aufdrängen, doch die direkte Drohung bestürmt dich ebenfalls und reißt eine Kluft zwischen „Leben und Tod“.
Die irreführenden Sehnsüchte können dein Unglück sein, durch deren Häufung geht deine Seele darin über und stößt das ab, was das Vollkommene ist.
Was nun in dir ist, strahlt weit voraus und verbindet dich mit diesem und dem nächsten Leben.
In unseren Seelen liegt das Entstehen, doch zugleich ist die nächste Geburt damit verbunden, doch das Unendliche musst du empfangen „wollen“.
Wenn du leben willst, Ardaty, so gehe „ein“ und stirb.
Wenn innerliche und sehr irdische Sehnsüchte dir zugrinsen und du einen Schauder spürst, ist es doch deine eigene Unwissenheit über das, was dahinter liegt.
Alles, was wir auf der Erde besitzen, lieber Ardaty, ist geliehenes Gut.
Venry wird Ardaty kennenlernen, sofern die Götter das als richtig erachten.
Siehe doch, das Rot, es ist wie Blut.
Er erleuchtet die Finsternis.
Es ist ein Zeichen, doch nur für jene, die annehmen.“
Ich blickte in die Finsternis, sah jedoch weder Licht noch Rot, das wie Blut gefärbt war.
Obwohl ich doch oft das Licht erblickt hatte, das andere nicht sehen konnten, konnte ich nichts von dem wahrnehmen, was meine Mutter sah.
Meine Mutter sprach in den letzten Tagen so viel, wie sie ihr ganzes Leben noch nicht gesprochen hatte.
Still, ganz still und in sich gekehrt hatte sie ihr irdisches Leben gelebt und ihre eigenen Geheimnisse gewahrt.
Jetzt war sie vollkommen offen, und alles war tief, jedes Wort berührte das unendliche Leben.
Als meine Mutter innehielt, sprang mein Vater auf und öffnete die Käfige.
Die Vögel waren noch immer wach, und er sprach zu seinen Kindern und gemahnte sie, ruhig zu bleiben.
Dann kam er zurück zu meiner Mutter.
Plötzlich stand meine Mutter auf, nahm Ardatys Hand in ihre; beide sahen mich an.
Die Augen meiner Mutter drangen in mich, wie die Nacht dem Tag weicht, und das Leben erwacht.
Mein junges Leben zog an mir vorbei, und ich erlebte erneut ihre große Liebe.
Unsere Seelen waren eins und blieben für immer eins.
Dann, als würde sie eine innerliche Erschütterung erfassen, löste sie sich von mir und ich ging in meinen Vater über.
Ein dankbares Ergründen und Fühlen und das Glück eines großen Kindes breiteten sich in mir aus.
Als ob ihr Einssein auch in der Hinsicht vollkommen war, sagten beide zugleich zu mir:
„Lebewohl, lieber Venry, Lebewohl, mein Junge“, und sie gingen in die Gärten hinein.
Vor meinen Augen lösten sich beide auf, und ich war allein.
In Gedanken befolgte ich dem, was sie meinem Vater und mir gesagt hatte.
Unbeschreiblich tief war ihr Fühlen und Denken, und dennoch konnte ich sie verstehen.
Wenn ich sehr tief in mich selbst hinabstieg, verstand ich sie vollkommen.
Ardaty würde ich kennenlernen?
Kannte ich meinen Vater nicht hinreichend?
Als ich an meinen Vater dachte, flogen die Vögel in den Raum und verschwanden.
Das hatte eine große Bedeutung, denn es war Nacht; obwohl eine schwache Dämmerung heraufzog, welche den neuen Tag ankündigte.
Im selben Augenblick, als die Vögel in Freiheit waren, stieg aus dem Inneren der Erde ein dumpfes Grollen auf, unmittelbar gefolgt von einem zweiten und dritten, und ich sah, dass tiefrotes Licht die Dämmerung durchbrach.
Eine schwüle Atmosphäre ließ mich fast ersticken, und in der Ferne hörte ich das Brüllen wilder Tiere, das immer näher kam.
Sofort danach hörte ich, wie die Stimme Dectars in mir sprach.
„Komm, lieber Venry, komm nun rasch, bitte.
Suche nun deine Eltern nicht, sie sind tief im Gebet versunken und gehen „hinein“ zu „Ihm“, der die Allwissenheit hat.
Gehe nun, lieber Venry, komme nun rasch, bevor es geschieht, das sich Gesetze in Kräfte und Mächte verwandeln.“
Ein Meister der Konzentration und des starken Willens hatte zu mir gesprochen.
Vom Tempel der Isis aus baute er eine Mauer der Kraft um mich herum.
Mein inneres Leben, das eine geraume Weile gleichsam geteilt gewesen war, sodass ich mich in zwei Welten gleichzeitig fühlte, wurde nun vollkommen eins.
Zudem fühlte ich noch andere Kräfte, und es war, als hätte mein stofflicher Körper die Schwerkraft verloren.
Ich verstand allerdings gar nichts, aber dennoch konnte ich es deutlich fühlen.
So schnell meine Beine mich trugen, rannte ich von zu Hause und aus der Umgebung weg.
Doch mein Fortgang war eher das Schweben eines Vogels, so schnell lief ich; noch nie hatte ich so schnell laufen können.
Um den Tempel der Isis zu erreichen, brauchte ich nur eine Viertelstunde, nun jedoch würde ich die Strecke in wenigen Sekunden zurücklegen können.
Ich lebte in einer mir unbekannten Kraft.
Der Tempel stand abseits von unserem Dorf, und um den Weg zu erreichen, der mich zur Haupttreppe führen würde, musste ich zuerst einen kleinen, aber dichten Wald durchqueren, und dann sah ich den Tempel vor mir.
Ich ging nun etwas langsamer weiter.
Die merkwürdigen Gefühle hatte ich bereits wieder vergessen.
Zum vierten Mal hörte ich das schreckliche Grollen aus der Erde aufsteigen.
Ein gleißendes, blutrotes Licht beschien die Erde, und in der Natur war alles erleuchtet und tiefrot gefärbt.
Meine Mutter hatte dieses Schreckliche zuvor gesehen, und ich selbst hatte es als weißen Silberstreifen wahrgenommen.
Das ängstliche Zwitschern der Vögel rüttelte mich unvermittelt wach, und ich glaubte die Vögel wiederzuerkennen, die nun wild umherflogen und keine Ruhe finden konnten.
Erneut hörte ich das unheilvolle Grollen und sah, wie die Erde aufriss.
Ich empfand jedoch keine Furcht.
Mit einer Gewalt und einer unglaublichen Wucht spaltete sich die Erde, sodass Gebäude einstürzten, die Oberfläche verschwand und ich mich vor einer unüberwindlichen Schlucht wiederfand, die mir den Weg versperrte.
Um mich herum Leere, Tiefe, Einsamkeit und Verlassenheit.
Verschiedene Hütten und Häuser waren in die Tiefe gerissen worden, und mich erreichte das angstvolle Schreien von Menschen und Kindern.
Aus dem Himmel fiel der Regen in Sturzbächen, und eine Flutwelle überspülte die Erde.
Ich merkte, dass der Boden, auf dem ich stand, unter mir zu bröckeln begann, und ich fühlte, wie dieser Boden unter meinen Füßen bebte.
Doch in dem Augenblick spürte ich diese fremden Kräfte wieder in mir aufsteigen und hörte Dectar sagen:
„Spring, lieber Venry, mach einen großen Sprung, du wirst weit, sehr weit springen können, um dich über die Schlucht zu bringen, so dass du wieder festen Boden unter den Füßen spürst.
Du wirst schweben, Venry, aber spring!“
Doch ich getraute mich nicht, denn ich sah, dass ich diesen Sprung nicht schaffen und in der Tiefe verschwinden würde.
Wieder hörte ich Dectar sagen: „Wisse, lieber Venry, dass auch diese Kräfte in dir sind; dass uns diese Kräfte gegeben sind, doch dass nur wenige Menschen sie in sich spüren.
Du hast sie, du trägst sie, und ich kenne diese Kräfte.
Du kannst gehen, wohin du willst, doch du musst springen, und du wirst springen.
Spring jetzt, Venry!“
Jetzt fühlte ich, wie eine grimmige Kälte sich mir von hinten näherte und ich leichter wurde.
Ich hatte das Gefühl, dass diese Kräfte aus dem Inneren der Erde aufstiegen, und ich berechnete den Abstand.
Ich hatte nur drei Meter, um zum Sprung anzusetzen.
Vor mir gähnte ein Abgrund, der so tief und so breit war, dass es mich ängstigte.
Die Breite maß sicher zehn Meter bis zur anderen Seite.
Ich stand noch auf festem Boden, konnte aber weder vor noch zurück.
Ich befand mich in einer heiklen Lage.
Dennoch war ich mir nicht bewusst, dass ich in mich in Lebensgefahr befand.
Erneut hörte ich Dectar.
„Spring jetzt, Venry, spring, es ist höchste Zeit.“
Nun überkam mich eine entsetzliche Angst, so schrecklich und abscheulich, dass mir der Schweiß den Körper hinabrann.
Doch dann stellte ich meine Konzentration und meinen Willen auf den Sprung über den Abgrund ein, und ich wusste, was geschehen würde.
In mich kam eine enorme Kraft, durch meine Angst, mein Denken und Fühlen in Gang gesetzt, und ich würde jetzt einen Vogel zwingen können, seinen Kurs zu ändern, und wenn ich wollte, zu mir zu kommen.
Dann setzte ich zum Sprung an und spürte meinen eigenen Körper nicht mehr, sondern schwebte zur anderen Seite.
Beim Schweben hatte ich jedoch das Gefühl, dass ich von jemandem, einem unsichtbaren Wesen, getragen wurde, doch ich sah niemanden.
Rasch rannte ich weg, durch Spalten und Löcher fand ich den Pfad und sah, dass der Wald teilweise vom Erdboden verschwunden war.
Vor mir lag die Haupttreppe, die mich direkt zum Tempel führen würde.
Als ich den ersten Teil zurückgelegt hatte, ruhte ich mich ein wenig aus.
Danach schlängelte sich der Pfad weiter hinauf, und als ich ihm folgte, schien es mir, als würde jemand oben auf mich warten.
„Bist du es, Dectar“, fragte ich mich.
Als ich hinaufeilte, sah ich, dass er es war.
Sein junges Antlitz strahlte vor Freude.
Er umarmte mich.
„Siehst du, Venry, das alles ist notwendig.
Nun hast du die neuen Gaben, und sie sind durch die Angst wachgerüttelt worden.“
Ich blickte zu ihm auf und fragte:
„Wo sind meine Mutter und mein Vater?“
„Aufgenommen, Venry, und zwar in ihrem eigenen Sommergarten, in dem immer und immer alles blüht, alles duftet und ihnen zulachen wird.
Folge mir, lieber Venry, niemals werden wir uns von nun an trennen.
Ich werde Vater und Mutter für dich sein.“
Ich wollte Dectar antworten und Fragen stellen, doch ein Schwindel erfasste mich, und ich wusste nichts mehr.