Der Chor kommt und singt

Die Tage vergehen wie im Fluge.
Tag für Tag ist ein wahres Fest.
Crisje fühlt sich wieder stark, aber Mina will, dass sie bis zum letzten Tag und zur letzten Stunde ihre Ruhe genießt.
Heute Abend kommen die Sänger, und sie werden die Kunst des Langen erleben.
Jeus ist jetzt schon sieben Tage alt.
Er schreit gut und der Lange meint, dass dies wohl eine Stimme wird, aus der er etwas machen kann.
Aber Crisje lacht ihn aus.
Der Lange soll nicht übertreiben.
Sie hat sich wieder hingelegt, die Männer können jeden Augenblick kommen.
Gerrit ist der Erste.
Er bläst die Geschehnisse des Lebens auf wie Kirmesballons, bis sie zerplatzen und in Fetzen auf den Boden trudeln.
Und wie die Ballons werden dem Publikum auch die Erzählungen in verschiedenen, grellen Farben zugänglich gemacht.
Und die Freude und der Spaß der Umstehenden sind oft nicht von echtem Kirmesgejohle zu unterscheiden.
Nach dem fünften oder sechsten Schnaps wird außerdem noch sein französischer und italienischer Sprachkomplex unruhig und muss unbedingt einmal herausgelassen werden.
Die Freunde, ebenso wenig stark in der Sprachwissenschaft wie Gerrit selbst, glauben jedoch, dass er sich ordentlich durchschlagen könnte, wenn er sich in dem betreffenden Land befinden würde.
Nur der Lange weiß es besser, aber er belässt es natürlich dabei.
Er findet, wie Crisje, dass Gerrit ein Prachtkerl ist, und hat ihn gern um sich. Außerdem weiß er, dass sein Basssänger auch ernste Momente hat und dann auch seine Dinge recht zu sagen weiß.
Als käme er gerade herein, dabei hat er hat bereits einige Zeit am Tisch gesessen, steht er plötzlich auf und setzt neu an: „Erst Crisje Guten Tag sagen, und dann deinem Herzen und deinen Nieren, Hendrik.
Schließlich bist du doch der Bildhauer von diesem Fleisch und diesen Knochen.
Wahr oder nicht wahr, Cris?“
Was soll diese darauf sagen?
Crisje kichert nur ein wenig.
Gerrit erwartet jedoch keine Antwort und setzt sich wieder an den Tisch.
Sie warten auf die anderen.
„Verflixt“, kommt es dann plötzlich, „jetzt habe ich Jeus doch glatt vergessen.
Wie geht es ihm, Crisje?“
„Gut, Gerrit.“
„Ich werde ihn jetzt hören lassen, wie ich singen kann, Crisje.
Er will schlafen, was?
Aber er kann uns noch mehr erzählen.
Den werde ich hören lassen, wie wir hier singen können.
Oder er soll dahin zurückgehen, wo er hergekommen ist.
Wenn der groß ist, Langer, kann er mich bitten, den ersten Tenor zu singen.“
Peter und Jan sind inzwischen auch angekommen.
Das andere Gespann, das die Basspartie singen wird, und der zweite Tenor, Jantje van Stien, müssen noch kommen.
Peter hat eine Anfrage erhalten, in Wesel zu singen.
Und das tun sie bestimmt.
Wesel kennen sie, da haben sie schon verschiedene Erfolge verbucht und in Meiderich haben sie Ruhm geerntet, der ihnen von weither aus Deutschland Einladungen beschert hat.
Peter und Hendrik sind die Asse des Chors.
Jans Stimme gehört nicht zu den Stärksten, Gerrits Stimme hingegen kann so anschwellen, dass er die ganze Basspartie trägt.
Peter ist ein Sachse, der nie lernen wird, Holländisch oder Platt zu sprechen.
Die zusammengewürfelte Sprache aus Deutsch und Platt, mit der er versucht, sich verständlich zu machen, bereitet einem Magendrücken, es kitzelt und wirkt wie Gerrits Schabernack unwiderstehlich auf die Lachmuskeln.
Peter hat jedoch eine gewaltige Stimme und könnte mit dem Singen, das ist das allgemeine Urteil, gutes Geld verdienen.
Endlich ist das Gespann vollständig.
Sie stimmen sich aufeinander ein.
Selbst das findet Crisje schon nett, es hat für sie einen eigenen Reiz.
Die Männer räuspern sich.
Crisje kann jeden Klang gut unterscheiden, die hohen Stimmen, den Bass von Gerrit und den Tenor ihres Langen.
Alles zusammen ein Klang zum Verrücktwerden.
Auf der Straße stehen die Leute schon in Erwartung dessen, was sie zu hören bekommen werden.
Sie freuen sich über eine kostenlose Gesangsaufführung.
Und klatschen werden sie sicher auch.
„Jetzt müssen wir anfangen“, hören die Männer von Peter, „schwätzen können wir später noch.“
Crisje lächelt.
„Ja, Peter, „schwätzen“, das können sie allerdings.
Gerrit „schwätzt“ den ganzen Abend, die ganze Woche, ja das ganze Jahr hindurch.“
Die Männer stellen sich auf.
Und habe ich es mir nicht gedacht?
Crisje vermutete schon, dass der Lange wieder etwas im Sinn hatte.
Der Lange tritt in das Schlafzimmer und holt Johan aus seinem Bettchen.
Aber diesen Unsinn schätzt Crisje nicht und sie sagt auch direkt ihre Meinung dazu.
Was hat dieses Kind nun mit ihrem Gesang zu tun.
Hendrik tut jedoch so, als ob er nichts hört, und stellt sich mit seinem ältesten Söhnchen vor Peter.
„Schau, Peter, dieses Kind an.
Johan kann singen.
Diese Woche habe ich ihn singen gehört.
Komm“, sagt er zu Johan, „lass mal eben deine Stimme hören.
Sing mal Stille Nacht ... Heilige Nacht.“
Johan, völlig überrumpelt und wahrscheinlich nicht auf die sanfteste Weise aus seinem Bettchen geholt, steht verschlafen auf unsicheren Beinchen und zittert und bebt.
Er piepst kurz und fängt dann an zu weinen.
Der Lange steckt das Kind wieder ins Bett.
Die Männer wissen, dass sie beim Langen mit allem zu rechnen haben, aber es ist eine Erleichterung für sie, als das Kind wieder in seinem Bett liegt.
„Na“, fragt Peter, „seid ihr bereit, Jungs?
Erste Strophe.
‚Im schönsten Wiesengrunde‘.“
Dieses Lied singen die Männer immer als Erstes.
Jetzt kommen die Stimmen in Schwung und es wird ernst.
Der Lange steht vor seinen Männern.
Seine Arme gehen hoch.
Nichts kann sie jetzt noch aus der Konzentration bringen.
Heilige Ernsthaftigkeit hat die Männer jetzt ergriffen.
Selbst Gerrit käme nun nicht auf die verrückte Idee, Unsinn zu machen.
Früher konnte das schon mal passieren, aber der Lange hält sie mit seinen Augen unter Kontrolle.
Seine Augen sprühen jetzt Feuer.
Durch seine Autorität und seine gewaltige Stimme entsteht der Kontakt im Quartett, das Einssein und der gemeinsame Wille, das Beste zu geben, was in ihnen steckt.
Sie haben angefangen!
Das ist wunderbar.
Crisje summt mit den Männern mit.
Aber dann hört sie plötzlich auf.
Sie hat es sich überlegt.
Der Lange kann das nicht vertragen, und deswegen hat sie sich schon sehr viel anhören müssen.
„Dann“, so sagte er, „musst du selbst hinzukommen.“
Er konnte dann keine Ordnung bewahren.
Und das Summen klang wie das Gepiepse einer Maus, die in der Falle saß und sich den Schwanz eingeklemmt hatte.
Damit musste Crisje sich abfinden.
‚Im schönsten Wiesengrunde‘.
Hör mal, wie das klingt.
Gerrit brummt wunderbar.
Wenn Crisje zu Jan Maandag schauen würde, müsste sie lachen.
Deswegen unterlässt sie es auch wohlweislich.
Jan zieht seinen Bohnenstangenkörper ganz in die Höhe und tanzt wie ein Huhn auf Stelzen.
Er singt dann mit seinen Füßen.
Er singt mit seinem ganzen Körper und zieht dabei ein Gesicht wie St. Nikolaus, der anfängt auszuteilen, und dann bemerkt, dass noch nicht einmal eine einzige Pfeffernuss mehr im Sack ist.
Auch der Lange verändert sich wie das Blatt eines Baumes.
Er wird ein anderer, man würde beinahe sagen, ein reinerer Mensch.
Peter erhebt seine Stimme und Hendrik folgt ihm.
Diese zwei Stimmen tragen doch eigentlich den ganzen Chor, denkt Crisje.
Fast könnte man weinen, so rührend schön ist es.
Hör doch diesen Langen.
Sie haben die Stimme der Götter in ihrer Kehle und besitzen tausendmal mehr als die anderen.
Wenn man die zwei hört, braucht man sicher nicht mehr in die Stadt zu gehen, um noch schöneren Gesang zu hören.
Das Lied ist zu Ende.
Jetzt kommt die Nachbesprechung.
„Du“, fängt Peter schon an, „du hast die Strophe verschwinden lassen.
Das ist ja „Kugelhupf.“
Was das bedeutet, weiß kein Mensch.
„Und du, Gerrit, dein Bass, deine Begleitung war ja zu tief.
Was hältst du davon, Hendrik?“
Der Lange sagt auch, wie er es sieht.
Gerrit drang mit seiner Bassstimme zu stark noch vorn, sodass die anderen ihn übersingen mussten, wenn sie am Schluss das richtige Verhältnis haben und dem Charakter des Ganzen den Glanz schenken wollten, der ihm gebührt.
„Noch einmal“, sagt Peter, „und nun anschließen und fühlen, wohin es geht.
Also stimmungsvoll enden.“
Das ist Peters Sache.
Sicher, der Lange ist Dirigent und steht vor der Truppe, aber dies behandelt Peter mit dem Langen.
Wenn er fühlt, was jedoch selten vorkommt, dass Peter sich irrt, bekommt dieser es schon zu hören.
Peter, der seinen eigenen Sängerchor gehabt und damit in Deutschland große Triumphe gefeiert hat, kennt die Stimmen und weiß, wie die Menschen sich zu geben haben.
Und wieder hört Crisje „Im schönsten Wiesengrunde“.
Doch jetzt singt ein anderer den sechsten Tenor, ohne sich um Maß und Rhythmus zu kümmern und selbst der Lange ist nicht in der Lage, die Stimme zum Schweigen zu bringen.
Jeus ist wach geworden und fängt an zu schreien.
Crisje schickt ihre Gedanken zu dem Kind, und als ob das kleine Leben sie fühlt und das Kind sich bewusst wird, dass zu seinen Ehren gesungen wird, verhält es sich jetzt still und schaut ruhig zu.
Gerrit muss noch schnell etwas sagen, bevor sie wieder ihre Münder öffnen: „Das ist ihm auch geraten, Cris!“
Sie singen wieder.
Jeus bleibt jetzt ruhig.
Crisje befürchtet jedoch das Schlimmste, denn inzwischen sind Johan und Bernard auch wach geworden und schauen zu ihrer Mutter, als ob sie sagen wollen: „Was hat sich Vater jetzt wieder in den Kopf gesetzt. Und was soll das wieder, keinen Augenblick hat man hier Ruhe im Haus.
Man kann ja nicht mal ruhig schlafen.“
Es wirkt jetzt, als ob ein ganzer Opernchor singt, so gewaltig und voll klingt es.
Selbst Jan Maandag ist anders und hampelt nicht so herum.
Und aus dem Langen und seinen Männern strömt eine Kraft in Crisje, zieht durch das ganze Haus, die den anwesenden Leben Begeisterung schenkt, die Herzen schneller schlagen lässt und selbst die Kinder zum andächtigen Zuhören zwingt.
Die zarten Klänge, die in den Kräften anwesend sind, und die Stimmen, die sich darin befinden, schlagen ein Loch in dein Leben und wühlen in deiner Persönlichkeit, ja, davon bekommt man einen Kloß im Hals, denn sie besitzen eine Klarheit und eine Helligkeit, und auch, wenn man noch so unmusikalisch und unempfänglich für die Reinheit dieses Gesanges ist – man hört unbewusst, dass man sich hier dem Reinen nähert.
Aus dem Schlafzimmer kommt die Bewunderung, und zwar von Johan:
„Verflixt, Vater, das ist aber schön!“
Hendrik stürzt zu Crisje.
„Ist das nicht ein Kompliment, Crisje?
Danke Johan, danke.“
Nun darf Johan so etwas sagen, und das fühlt das Kind auch.
Aber er soll das lieber nicht probieren, wenn sein Vater nicht gut gelaunt ist oder Geige spielt.
Der Lange duldet nicht, dass Kinder beurteilen, ob etwas schön ist oder nicht, das dürfen nur die Älteren.
Johan kann von Glück reden, dass Vater in der Laune für etwas Spaß und Freude ist, und dass die Männer da sind und sein Vater auch gut begreift, dass er selbst die Kinder aus dem Schlaf geholt hat.
„Wie war es, Cris?“, fragt Hendrik.
„Fantastisch, Hendrik, schön war es.“
„Hört ihr das, Männer?
Jetzt war es besser.“
Peter schmunzelt und sagt:
„Und nun unser neues Lied für Crisje.“
Der Lange eilt wieder ins Schlafzimmer.
Mit ein paar Schritten ist er bei Crisje, denn gleich an die große Küche, das Wohnzimmer und die gute Stube und was sonst noch da ist, grenzt die kleine Kammer, in der sie schlafen.
„Jetzt sollst du doch etwas hören, Cris.
Du musst gut zuhören und uns sagen, was du darüber denkst.“
„Ja, Hendrik“, sagt Crisje.
„Ich werde gut zuhören und euch ehrlich sagen, was ich darüber denke.“
Wie heißt das neue Lied?
Peter sucht schon die Papiere zusammen.
Jetzt muss das noch sein, aber bald singen sie es natürlich auswendig.
„Zum stolzen Fels am Rhein“ heißt es.
Ein wundervolles Lied.
Crisje sieht, wie der Lange bebt.
Es scheint, als ob seine langen Beine sie von links und rechts grüßen, aber es wird wohl nicht so sein, es ist jedoch eine Tatsache, dass der Lange, wenn es um etwas Neues geht, immer wieder anders ist.
Die Nerven spielen ihm dann einen Streich.
Die Arme gehen hoch.
Der leichte Schlag auf die Herzen der Männer ist schon erfolgt.
Unsichtbar für die Außenstehenden, aber gut fühlbar für die, denen er gegolten hat.
Schon ertönen die ersten etwas verhaltenen Farbklänge durch das Haus.
Peter singt wie ein Engel; ob es in den Himmeln solche Stimmen gibt, weiß Crisje nicht, aber dies ist fabelhaft.
Der Lange ist sehr gut in Form.
Rein klingt seine Stimme.
Herrlich ist dieses Lied.
Crisje schnürt es beinahe die Kehle zu und sie glaubt, dass selbst Jeus zuhört.
Johan und Bernard hängen halb aus dem Bett, aus Angst, dass ihnen etwas von dem Gesang entgehen könnte.
Sie finden, ihr Vater ist ein Held, der buchstäblich alles kann, was er nur will.
Mit diesem schönen Lied werden die Männer Erfolg haben, denkt Crisje.
Doch nicht nur im Haus genießt man das Konzert, auch draußen hören die Leute noch immer zu.
Es ist ihnen nicht möglich, einfach so vorüber zu gehen.
Gebannt lauschen sie den Gesängen, die man dort bei dem Langen zum Besten gibt.
Das ist verdammt schön.
Das ist Kunst.
Das wärmt einem das Herz, und das kann man so herrlich genießen.
Man liebt diesen Gesang, weil man ihn begreifen und mitfühlen kann.
Man hört, dass hier mehr gegeben wird als normaler Gesang aus Freude am Singen.
Sowohl der Lange als auch Peter haben übrigens ihre Sporen schon längst verdient.
Das Lied ist zu Ende.
Die Männer schauen sich an.
Sie wissen selbst nicht, wie es gegangen ist.
Aber dann hören sie draußen ein begeistertes Klatschen.
Durch die dünne, kalte Luft dringt es beinahe ungebrochen durch die Mauern.
Dort draußen will man mehr hören.
Als der Lange zwischen den Gardinen hindurchlugt, sieht er, dass dort mehr als zwanzig Leute stehen und nach „mehr“ rufen.
„Los, Hendrik, noch einmal!“
„Und, Cris?“
„Ich muss schon sagen, Hendrik, so was habe ich von euch noch nicht gehört.
Das ist wirklich Gesang, mein Kompliment an euch alle.“
Der Lange kann es nicht lassen, Crisje noch schnell zu umarmen.
Dann erfahren die Männer es.
Gerrit kann sein Glück nicht fassen und muss natürlich was dazu sagen.
„Ist das nicht ein Gesang, Cris, dem Unser Lieber Herrgott lauschen kann?
Wenn ich demnächst in die Kiste muss, habe ich noch immer meine Stimme bei mir und kann da tun, was ich will.
Nicht wahr?“
Crisje lässt das nicht auf sich beruhen.
Gerrit muss Unseren Lieben Herrgott aus dem Spiel lassen.
Gerrit muss sie immer ärgern mit ihrem Lieben Herrgott, und er denkt, dass sie das von ihm hinzunehmen hat.
Doch das tut Crisje nie und nimmer.
„Was hat der Liebe Herrgott jetzt mit eurem Geschrei zu tun, Gerrit?“
„Was?
Was sagst du jetzt?
Willst du uns in den Rücken fallen, Cris?“
Ja, Gerrit, Unseren Lieben Herrgott musst du in Ruhe lassen.
Hat nichts mit deinem Singen zu tun, das ist zu heilig!
Der Lange kennt seine Cris, doch er kennt auch Gerrit, der seine Frau absichtlich aus der Reserve lockt.
Crisje fällt immer wieder darauf herein, da sie immer Tag und Nacht bereit ist, Unseren Lieben Herrgott zu beschützen.
Aber das Singen war schön.
„Wirklich, Hendrik, es war schön“, sagt Crisje dann jetzt auch.
„Meinst du das ernst, Cris?“
„Wirklich, Hendrik!
Das ist doch wirklich Singen.“
Wieder eine kurze Schmuseeinlage, denn der Lange weiß, dass sie ein gutes Gefühl für Musik und Gesang hat, wie es nur wenige Menschen von sich sagen können.
Der Lange bespricht auch oft die verschiedenen Nuancen der Stimmen mit ihr.
Und dann muss man sie einmal reden hören.
Gerrits Gebrumme gibt sie eine Tracht Prügel und auch Jan kassiert, was nötig ist, so sehr, dass der Lange es herausbrüllt vor lauter Vergnügen.
Doch er weiß, dass die Bemerkungen von Crisje richtig sind und was sonst noch daran fehlt.
„Warum, Cris, findest du, dass dies so schön ist?“
„Jetzt sind die Stimmen eins, Hendrik.
Eine trägt die andere.
Du weißt schon, was sich meine.
Ich kann mich jetzt nicht so gut ausdrücken, aber ich werde es dir noch irgendwann sagen.“
Dies ist die Wahrheit.
Denn der Lange und Peter haben gerade hierauf immer gedrängt.
Eins müssen die Stimmen sein, vollkommen eins, ein gemeinsamer Klang, erst dann kann man von einem harmonischen Ganzen sprechen und erst dann ist das Zuhören auch ein Fest.
Die Leute auf der Straße klatschen wieder so laut, dass es so ist, als stünden sie drinnen und bitten wieder, das Lied noch einmal zu singen.
„Ja“, sagt der Lange, „ihr bekommt noch eine Zugabe, aber ihr müsst schon etwas Geduld haben.“
Das Stimmengewirr so untereinander, denkt Crisje, ist schon eine Freude und ein Glück.
„Sie sind wie kleine Kinder, denen man“, so denkt sie etwas weiter, „eine Stange Süßholz in den Mund steckt, an der sie lutschen können.“
Doch die Wertschätzung für das, was die Männer leisten, versagt sie ihnen trotzdem nicht.
„Was sie hier hört, ist ja immerhin kein einfaches Geträller, kein Bücklingsgesang beim Räuchern, wenn die Fische aufgefädelt auf einem Strohhalm quietschen, wie mir der Mann vor Kurzem noch sagte und dabei darauf beharrte, dass sie noch gut waren, denn sie quietschten noch und sie konnte sie dem Langen ruhig vorsetzen.“
Unterm Strich ist es ein gemütliches Zusammensein, bei dem „man sich keine Läuse holt“.
Bei den Menschen stehen jetzt einige Türen offen, damit sie den Gesang hören und mitgenießen können.
Und dieses ganze Fest ist bei ihr im Haus, dicht vor ihren Augen.
Ein Glück, das sicher nicht jedem beschieden ist.
Schau doch mal.
Peter sieht feuerrot aus, Gerrits Wangen platzen beinahe und Jan ist fast so groß geworden wie der Lange.
Es sind sogar welche dabei, die so blass aussehen wie ein Toter.
Die braucht man nur noch in ein Laken zu hüllen und dann kann man sie gleich in den Sarg legen.
Wie das kommt, weiß sie nicht.
Aber so hat jeder etwas anderes.
Johan, der weiß, dass er bei seiner Mutter einen Stein im Brett hat, meint die Gemütlichkeit noch steigern zu müssen, und pfeift im Bett eine Melodie.
Aber damit hat er doch die Grenzen des Erlaubten weit überschritten.
Es ist nicht mehr Nachmittag und sicher schon Viertel nach zehn und dann hat er seinen Mund zu halten, selbst wenn er pfeifen will.
Er denkt jedoch, ein Wort der Wertschätzung nicht zurückhalten zu dürfen.
„Was für eine Stimme hat doch unser Vater, nicht wahr, Mutter?“, klingt es noch aus jener Ecke.
Aber dann bekommt er – im übertragenen Sinn – mit dem Besenstiel oder mit der Riemenpeitsche was hinten drauf, und man gibt ihm zu verstehen, dass es für eine Tracht Prügel mit dem Echten, der dort unter der Uhr in der Ecke steht, noch nicht zu spät ist.
Ein Geschenk von dem Langen, vor dem Johan heiligen Respekt hat.
„Du kannst deinen Mund halten, Johan.
Du weißt, Vater will das nicht haben, davon hast du keine Ahnung und dein Gepfeife will ich auch nicht mehr hören.“
Sie dürfen zuhören, aber kein Wort sagen, so tun, als ob sie genießen oder aber schlafen.
Die Welt mit Schuhcreme putzen, oder, wie Crisje das nennt, unterm Baum sitzen im sommerlichen Schatten Unseres Lieben Herrgotts und ihm für alles Erdenkliche danken.
Viel Zeit zu schimpfen bleibt ihr aber nicht mehr.
Die Männer stehen schon wieder in Reih und Glied und die Köpfe strecken sich.
Peter tränt das linke Auge, das fällt ihr immer wieder auf, sie versteht jedoch nicht, wie das kommt.
Es geschieht jedes Mal und wird wohl von der Anspannung kommen.
Aber wenn Peters Auge tränt und weint, hat der Mann eine Stimme „die die Engel nicht verachten würden“.
„Wenn Peter für Unseren Lieben Herrgott singen müsste, würde er nicht von Peter weglaufen.“
In ihrer Einfachheit wagt Crisje beinahe, zu bezweifeln, ob die Engel im Himmel in ihrem Chor über eine solche Stimme verfügen.
Die Adern schwellen an, auch die des Langen haben sich schon verfärbt.
Man merkt sofort, dass es weder Peter noch den Langen viel Mühe kostet, sich nach Truthahnart aufzublasen und aus ihren Stimmbändern alles herauszuholen, was möglich ist.
Man merkt es, es geht wie von selbst.
Erneut klingt das „Zum stolzen Fels am Rhein“, das sogar in der Kirche gesungen werden könnte, so rein klingt es jetzt.
Was wird der Herr Pastor wohl sagen, wenn sie dieses Lied für ihn singen.
Wie glücklich ist sie jetzt wieder.
Und was für eine Woche hat sie wieder erleben dürfen.
Während des Gesangs geht die Tür auf und Gradus tritt in die Küche.
Ganz unerwartet kommt auch er noch kurz zu Besuch.
Er schlurft zu Crisje, ergreift ihre Hand, nickt ihr gutmütig zu und bedenkt sie mit einem Blick des guten Einvernehmens.
Auch er hat das neue Lied gehört und will mit seinem Besuch zeigen, dass es die Mühe wert ist.
Er nimmt sofort die Gelegenheit wahr, einmal nach dem Kind zu schauen und zu sehen, wie es der Schwägerin geht.
Der Chor endet, Gerrits Bass klingt aus der Ferne noch nach und erstirbt dann mit dem Seufzer eines Menschen, der den letzten Atem aushaucht.
„Das ist verflixt noch mal Gesang, Hendrik.“
Die Männer strahlen.
Sie sind glücklich über das Kompliment.
Freude und Zufriedenheit strahlen aus ihren Augen.
Onkel Gradus ist nicht der Einzige, der gekommen ist, um sich zu bedanken, noch einige Zuhörer von der Straße klopfen an und auch sie sprechen ihren Dank für den schönen Gesang aus, den sie genossen haben.
Es war so durchschlagend, dass sie sogar aus der Gaststube von Hent Klint wegliefen.
Das fand Hent nicht so schön, denn dann wurde natürlich nicht getrunken.
Hent probiert jedoch nicht, seine Leute festzuhalten, denn er weiß nun einmal, wenn das Quartett singt, hört jeder zu.
Kommt noch mehr?
Nein, sie hören auf, aber das geht doch noch nicht.
Man will noch mehr hören.
Es wird noch eine Nummer gegeben.
Sie hören einige kurze Geräusche, auf alberne Art kommen diese aus den Mündern – darüber muss man schon lachen.
Scherze oder Flausen nennt Gerrit das.
Eine Mischung von Klängen, über die man immer lachen muss, weil hierbei immer Scherze gemacht werden.
Von Gerrit hört man nichts anderes als bam ... bam ... bam ... bam ...
Er stößt die Klänge mit aufgeblasenen Wangen und runder Schnute heraus.
Der Lange und Peter folgen dem dadurch entstandenen Reflex und spielen einander zu und lassen das Ganze wieder ineinanderfließen.
Das Schnalzen der Zunge zwischen den Lippen macht ein solch komisches Geräusch, dass sich Crisje auf dem Bett schüttelt vor Lachen.
In dieser Nummer ist Gerrit in seinem Element.
Manchmal wirken sie genau wie Blasinstrumente, die versuchen, einander zu übertönen, einander aber vollkommen ebenbürtig sind und trotzdem nicht aufgeben wollen.
Etwas später kommen sie zur Ruhe, und es scheint, als ob sie eingeschlafen sind, es wird beinahe totenstill, um danach plötzlich wie ein heftiges Feuer wieder aufzulodern und das liebe Leben wieder von vorne anfangen zu lassen.
Crisje kann nicht viel damit anfangen.
Peter nennt es den Zusammenbruch der Notenspielerei, und Gerrit nennt es die „Kirmes in Stokkum“.
Jan Maandag hat dafür keine Bezeichnung, steuert aber sein Lachen, sein Schultergeschüttel und seine Trippelschritte bei.
Jan kann nie stillstehen, noch weniger still sitzen, er hat Hummeln im Hintern, sagt Gerrit, und einen Teil seines Gehirns unter den Füßen, sodass Jan immer gereizt wird.
„Außerdem hat er auch drei „Lungen“ – zwei zum Atemholen und eine, um seine Zigarren anzuzünden, an denen er immer lutscht.
Gerrit hat immer einige der billigsten Zigarren in der Tasche, die sind speziell für Jan.
Mehr ist er nicht wert.
Jan frisst seine Zigarren immer halb auf.
Die Männer schmettern drei von den „Raketen“.
Schlager sind es, kurze, laute, aber keine unbedeutenden Stücke.
Crisje hält sich den Bauch fest, so wirkt der Gesang auf ihre Lachmuskeln, aber sie zieht doch ruhige Lieder vor.
Nach dem Ave Maria kann sie immer wieder lauschen, auch wenn der Lange es nur auf seiner Geige spielt.
Immer wieder rührt es sie und sie erliegt dem Zauber wieder, auch Händel und sein „Largo“, oder wie es heißt, mag sie immer gerne hören.
Geweihte Musik hat für sie doch immer den größten Zauber.
Dieser Sonntagabend war wieder einer, den man nicht so schnell vergaß.
Doch jetzt ist es wirklich vorbei.
Schließlich sind noch Kinder im Haus.
Der Lange schaut Crisje an und diese zeigt ihm mit ihren Augen, dass es für heute reicht.
„Ja, Cris“, sagt er, „wir hören auf“, und dann wissen auch die anderen, dass „Schluss“ ist.
Das Quartett geht auseinander.
Wenn sie wieder einmal kommen, dürfen sie bis vier Uhr morgens durchsingen, wenn es nötig ist.
Für heute ist es jedoch genug.
Morgen ist wieder ein Tag, und da ist ein Kind, das sieben Tage alt ist.
Es ist seltsam, aber dieses Kind schläft bei all dem weiter.
Die Jungen sind auch eingeschlafen, sie haben sich müde gelauscht, und Crisje fühlt, dass auch sie jetzt nichts mehr hören kann.
Auf Wiedersehen Peter, Auf Wiedersehen Gerrit und Jan und auch die anderen, seid gegrüßt.
Euch allen herzlichen Dank.
Es hat sich wirklich gelohnt, dafür wach zu bleiben und zu „lauschen“.
Auch Onkel Gradus geht.
Fein, Onkel Gradus, dass du gekommen bist.
Der Lange fühlt seine Müdigkeit jetzt auch.
Er verlangt jetzt nach seinem Schlaf und seinem Bett.
Morgen wird es wieder ein langer Tag für ihn und Crisje.
Morgen will sie wie gewöhnlich wieder ihre Rechte geltend machen und das Ruder in die Hand nehmen.
Dann steht sie wieder am Ruder mit dem Schiff in der Brandung und wird ihre Kräfte nötig brauchen, um das Schiff sicher hindurchzubringen.
Trotzdem kann der Lange nicht sofort schlafen.
Er setzt sich auf den Bettrand nieder und plaudert noch etwas mit Crisje.
Jetzt hört er eigentlich erst richtig, wie sie es fand und wie sie es genossen hat.
Dies findet er angenehm, denn dies ist wieder ihr Einssein.
Dies gibt ihnen wieder eine tausendfache Kraft, an der alles zerbricht und die einem Menschen gleichzeitig die Möglichkeit schenkt – wenn er das will und die Gefühle dafür besitzt –, Kunst von höchstem Range zu schaffen und zu gebären.
Der Lange sieht sich dann wieder selbst in Gedanken in Wesel auf der Bühne.
Er kann wieder gar nicht genug davon reden.
Bei Crisje kommen die Gefühle wieder auf eine andere Art und Weise zum Ausdruck.
Sie denkt darüber nach, was sie in all diesen Monaten gefühlt und erlebt hat.
Jetzt wird für sie eine Zeit abgeschlossen, so gewaltig, dass sie sie, auch wenn sie hundert Jahre alt werden sollte, niemals vergessen kann.
Wenn sie demnächst wieder auf den Beinen ist, wird sie die schönen Gefühle verlieren, da das Alltagsleben mit all seiner Mühsal wieder ihre volle Aufmerksamkeit fordern wird.
Wenn sie nur eine Stunde auf den Beinen ist und den Ofen angemacht hat, wird sie sie unwiderruflich verlieren.
Aber trotzdem, in ihren Gedanken wird es unter ihrem Herzen leben, denn es ist ein Teil ihrer Persönlichkeit geworden.
Es ist ein gewaltiges und Ehrfurcht gebietendes Gefühl, das sie wohl ihrem Langen mitteilen muss.
„Siehst du, Hendrik, das ist es!
Jetzt bin ich wieder ich selbst.
Aber das werde ich nie vergessen!
Darum habe ich den heutigen Abend so genossen, Hendrik.
Wie schön waren die Stimmen.
Wie weit hast du es doch gebracht.
Es ist nicht zu glauben.“
Hendrik ist wieder wie ein Kind.
Dieser große Mann schaut jetzt auf Crisje wie eine Taube im Flug in den blauen Raum.
Sie ist jetzt seine Königin in einer goldenen Kutsche.
Er sitzt da bei ihr, als ob er erst eine Stunde ihres Lebens kennt und sieht zu ihr auf wie zu jemandem von Adel.
Was sie ja auch ist, was ihren Charakter betrifft.
Herrlich ist diese Genugtuung, wunderschön sind diese Augenblicke; schnalz-schnalz, Crisje, hörst du seinen Schmatz, schmack-schmack, nimm all diese Küsse, diese Küsse der Liebe.
Aber Achtung, dass er dir nicht wieder blaue Flecken beißt, denn dann ist die Freude plötzlich dahin.
Ach ja, dieser Lange.
Hendrik schenkt sich noch einen Schnaps ein, und nippt bei Crisje daran.
Am liebsten würde er noch zur Tür rausstürzen, um zu hören, wie sie es bei Hent Klint gefunden haben.
Doch dazu kommt er nicht.
Diese Stunde ist für ihn von Ehrfurcht gebietender Schönheit.
Morgen wird er es schon hören.
Und auch dann kann er zufrieden sein.
Eine halbe Stunde später liegt er neben seiner Cris.
Er schnarcht noch etwas, aber nicht lange.
Dann kommen die Träume, und der Lange steht erneut vor seinen Männern, er nuschelt in seinem Traum Peter nach und spricht Deutsch und Platt durcheinander.
Wenn Crisje sich nicht selbst zwingen könnte, einzuschlafen, würde sie wieder alles miterleben.
Doch glücklicherweise schläft sie ein, denn bald ergreift Jeus sie wieder.
Ein anderes Echo wird sie dann wachrütteln.
Auch das ist ein Lied, und zwar ein Lied des Raumes.
Wenn du es hören kannst, Crisje, siehst du nicht nur dich selbst wieder, sondern auch Ihn, der das Lied des Raumes und der Stille in dich legte und dir das andere Leben gab, das ebenso wie der Lange seinen Schnalzlaut hören lässt.
„Trink noch was, mein Kind, deine Mutter hat genug, wofür ich Unserem Lieben Herrgott dankbar bin.
Wenn du das nur weißt.“
„Im Namen des Vaters ... und des Sohnes ... für ewig, für ewig Amen!“
Auf dem weißen Kleid sah ich nicht einen Fleck, auch die Engel nicht, die den Langen singen gehört haben.
Glaub es, auch sie haben die Stimmen von Peter und dem Langen genossen!
Aber Unser Lieber Herrgott weiß genau, was er will!
Frau De Man, aber Frau De Man!
Siehst du das Fegefeuer nicht?
Crisje betet im Schlaf.